Zufallsstudium: Leichen und Vektoren

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Was studiert der Junge mit den Dreadlocks eigentlich? Welchen Kurs besucht das Mädchen, das in der U-Bahn neben uns saß? Woche für Woche folgen wir fremden Studenten zum „Zufallsstudium“. Dieses Mal: Marina landet zuerst in einem Mathe-Tutorium und dann in einem sehr leeren Jura-Kurs. Da ist die Gefahr natürlich groß aufgerufen zu werden!

An einem Dienstagnachmittag, kurz vor den Klausuren, sollten
Studenten die Zeit nutzen und lernen. Da Prokrastination allerdings eine der
besten Studentendisziplinen ist, verbringe ich meinen Dienstag lieber im Dienste des Schreibens und
erweitere meinen Horizont. Vor dem Hauptgebäude der LMU sieht es um kurz nach
zwei eher leer aus, nur wenige Studenten sind unterwegs, also hänge ich mich an
den nächstbesten Studenten, der an mir vorbei läuft. Ein durchschnittlicher Typ
in brauner Hose und gestreiftem Shirt, der abwechselnd auf sein Handy und über
seine Schulter schaut – ich fühle mich ertappt und gehe etwas langsamer.

Schließlich verfolge ich ihn aber durch die fast leeren
Gänge in einen Hörsaal, der für zehn nach noch sehr leer ist. Die Anwesenden
sitzen einzeln und sind eine bunte Mischung aus Mädchen und Jungen ohne
erkennbare Klischees eines Studienganges. Als dann ein Student vorne den
Overhead-Projektor aufbaut, ahne ich, dass ich in einem Tutorium gelandet bin.
Und so ist es auch. Er beginnt mit der Verbesserung eines Arbeitsblattes über
Vektoren, das klingt für mich doch alles ganz logisch, Oberstufenniveau.
Vielleicht wird es ja noch spannender? Aber nach kurzer Zeit wird mir klar,
dass das hier sicher keiner der gefürchteten Uni-Mathekurse ist, in dem mit
höherer Mathematik und absurden Zahlenkonstrukten gearbeitet wird. Der Rest des
Kurses scheint hier auch keine mathematische Erleuchtung zu erlangen, und als
der Tutor erklärt, dass er nach Korrektur des Arbeitsblattes die Stunde
beendet, beschließe ich, mir ein neues Opfer zu suchen.

Also verlasse ich um halb drei den Saal und laufe kurz durch
die leeren Gänge. Keine Studenten zu sehen, jedenfalls niemand, der so
aussieht, als ob er gleich eine Vorlesung besucht. Das Audimax, mein Plan B,
ist ebenfalls leer. Also gehe ich auf gut Glück ein Stockwerk höher und
entdecke einen Jungen, der gerade in einen Hörsaal schlüpft. Ich folge ihm. Der
Saal ist auch nicht besonders voll, die vielleicht dreißig Studenten verteilen
sich auf den ganzen Raum und ich setze mich unauffällig in die letzte Reihe.
Komisch, noch kein Dozent zu sehen.

Dafür treffe ich einen Kollegen im Geiste: Ein anderer
Zufallsstudent! Er hat genau wie ich keine Ahnung, wo er hier gelandet ist,
eigentlich ist er Lehrer und auf Klassenfahrt, seine Schüler haben Freigang
und er, ganz der Lehrer, besucht in seiner Freizeit eine Vorlesung. Wir zucken
beide zusammen, als der Dozent plötzlich den Raum von hinten betritt und mit
einem Blick auf uns verkündet: Alle nach vorne, mir sitzt hier keiner in der
letzten Reihe. Das ist mir natürlich gar nicht recht, bei so wenigen Studenten
steigt das Risiko, aufgerufen zu werden – und das, obwohl ich noch nicht mal
das Fach kenne. Notgedrungen wandere ich nach vorne und sofort lüftet auch
schon eine Power-Point-Präsentation das Rätsel: Grundkurs im öffentlichen Recht
II. Jura also. Recht war ja in der Schule immer ganz interessant, aber ich
erinnere mich noch vage an das Gefühl, sowieso nie ganz richtig zu liegen und
immer etwas zu übersehen.

Und so ist es dann auch. Es geht los mit der Kunstfreiheit,
und einem Fallbeispiel: Die „Körperwelten“. Darf man diese Ausstellung in
Berufung auf allgemeine ordnungsrechtliche Vorschriften verbieten?
Kunstfreiheit? Berufsfreiheit? Wissenschaftsfreiheit? Zunächst alles abstrakte
Begriffe, die aber mit der Zeit etwas klarer werden. Trotzdem gelingt es keinem
Studenten, eine Frage ganz richtig zu beantworten, letztendlich hat immer der
Professor recht (Genau wie befürchtet). Der hält seine Vorlesung auf einem
rhetorisch sehr hohen Niveau, das wohl einer der angenehmeren Faktoren einer
Jura-Vorlesung ist. Kleine Anekdoten, Exkurse und Witze lassen die Vorlesung
interessant werden, so dass ich bald die drei Kunstbegriffe (formell, materiell
und offen) verstanden habe, und auch, warum das Ausstellen von Leichenteilen
irgendwie unter diesen Kunstbegriff fällt.

Außerdem weiß ich jetzt in groben Zügen, wie man mit Leichen
umzugehen hat: Sie müssen bestattet werden, und das wohl vor allem anderen aus
gesundheitlichen und hygienischen Gründen. „Stellen sie sich mal vor, da liegen
überall Leichen rum und faulen vor sich hin“, fordert der Professor auf, und
die Studenten verziehen die Gesichter. Aber die Leichen bei Körperwelten faulen
ja nicht, die sind Kunst oder doch Wissenschaft, oder vielleicht auch einfach
nur eine sehr absurde Form der Geldmacherei, mir erschließt sich das nicht so
ganz, jedenfalls nicht auf juristischer Ebene.

Je weiter die Vorlesung fortschreitet und je weiter wir dann
in die Tiefen von Grundrechten wie der Versammlungsfreiheit abtauchen, desto
mehr komme ich nicht mehr hinterher. Das ist mir dann doch alles zu abstrakt. Mein Hirn hat einfach keine Lust mehr und mir brummt der Schädel, genau wie
damals in der Schule, als man immer nicht weit genug gedacht hat und der Lehrer
das am Schluss alles besser wusste. Nur eine kurze Fachsimpelei bleibt im
Verlauf hängen: Der Professor fragt sich, am Rande des Themas Love-Parade, ob
man diese Techno-Musik denn eigentlich mit einem ch oder einem k ausspricht –
Es entsteht eine Diskussion, nicht nur über die Aussprache sondern auch über
musikalische Feinheiten des genannten Genres, und ich habe für einen kurzen
Moment doch wieder den Durchblick.

Von: Marina Sprenger

Foto: Lukas Haas