Bis zu diesem Tag ist es eine ganz normale Burschenschaft gewesen: nachts vernichtet man fässerweise Bier und kloppt sich mit Floretten. Tagsüber gibt es Tiefkühlpizza und Schweinebraten. Doch dann bezieht „Schatz“ mit seiner Freundin das Zimmer gegenüber der Küche.
Er ist riesig. Das wäre nicht weiter aufgefallen. Nur ist seine Freundin im Vergleich dazu winzig. Und: Sie beendet jeden Satz, den sie ihm über den Gang zuruft, mit einem gedehnten „Scha-h-atz“. Das ist das Erste, was ich von den beiden höre. Zu diesem Zeitpunkt habe ich bereits eingesehen, dass es keine gute Idee gewesen ist, in eine Burschenschaft zu ziehen. Ich bin so vieles gewohnt, dass ich mich kaum erschrecke, als dieser riesige Kerl eines Morgens – lachend und einem großen Blutfleck auf dem T-Shirt – vor meinem Fenster steht. Dass in Hulk eine Hausfee steckt, ahne ich hier noch nicht.
„Schatz“ will Ordnung. Und das ist ehrgeizig, denn auf den Gängen stapelt sich Gerümpel, das Gemüsefach des Kühlschranks ist voller Fleischsaft – und Klopapier gibt es eh nur an Feiertagen. Das entmutigt ihn nicht. Er schneidet die Bäume. Und er hängt Schilder auf: „Auch du machst die Küche sauber, Genosse“, ist darauf zu lesen.
Seit der Winter vorbei ist, verbringt er mehr Zeit im Vorgarten. Einmal, als ich mitternachts nach Hause komme, wässert ein riesiger Schatten den Rasen. Am nächsten Mittag steht „Schatz“ mit dem Wasserschlauch an derselben Stelle. Er sieht müde aus. Ich will ihm sagen, dass er durchhalten soll – aber er sieht nicht her. Ein paar Wochen später ziehe ich aus. Bei der Zimmerabnahme sieht er nach, ob ich etwas in Schrankfächern vergessen habe, an die ich nie herankommen bin. Dann gibt er mir seine E-Mail-Adresse. Ob ich ihm einen Bericht über meine Zeit hier schreiben könne, fragt er mich. Er kenne die Missstände und bald würde sich etwas ändern. „Natürlich“, antworte ich und verliere den Zettel noch beim Umzug. Susanne Krause
Jugend: Das bedeutet Nestflucht. Raus aus der elterlichen Einbauküche, rein ins Leben. Nur dauert es dann nicht lange, bis man sich einen Pürierstab zum Geburtstag wünscht – oder Sehnsucht nach Mamas Gulasch hat. Eine Kolumne über das Zuhause, was auch immer das sein mag. „Bei Krause zu Hause“ erscheint im Wechsel mit der Kolumne „Beziehungsweise“.
Geboren in der östlichsten Stadt Deutschlands, aufgewachsen in der oberbayrischen Provinz: Susanne Krause musste sich schon früh damit auseinandersetzen, wo eigentlich ihre Heimat ist – etwa wenn die bayrischen Kinder wissen wollten, was sie für eine Sprache spreche und wo „dieses Hochdeutschland“ sei.