Mode statt Medizin

Aline Mossmann ist 24 und hat ihr Studium aufgegeben. Statt Ärztin zu werden, bewirbt sie sich nun an der Royal Academy of Fine Arts in Antwerpen – mit einer Kollektion zum Thema Magersucht.

Es ist ein kalter Tag im Dezember. Die Kunden im Bastelladen tragen warme Wintermäntel und schwarze Wollmützen. Als Aline Mossmann, 24, das Geschäft betritt, drehen sich einige Menschen um und beobachten sie, manche tuscheln sogar: Sie trägt einen Vintage-Militäroverall mit Tarnmuster, kombiniert dazu schwarz-weiß-rote High Heels und trägt dabei grünen Lippenstift und violetten Lidschatten. Mittlerweile fällt ihr nicht mehr auf, wenn sie beobachtet wird: „Wenn die Leute einen ständig anstarren, blendet man die Blicke irgendwann aus“, sagt sie. Aline zuckt mit den Schultern, während sie das sagt. Sie läuft durch die Regale und besorgt sich Gips. Den braucht sie, um eine Jacke für Ana zu designen. Ana soll ihre Modelinie heißen, angelehnt an den Begriff Anorexie. Denn so ungewöhnlich ihr Kleidungsstil ist, so ungewöhnlich ist auch die Kleidung, die sie designt: Sie entwirft eine Linie, die ein vor allem in der Modewelt sensibles Thema behandelt: Magersucht.

In Alines engstem Freundeskreis gibt es viele, die ein gestörtes Verhältnis zum Essen haben, unter anderem ist auch ihre beste Freundin erkrankt.
„Ich habe den Verlauf der Krankheit hautnah mitbekommen“, sagt sie. Gleichzeitig habe sie genug Abstand, damit auch Außenstehende ihre Idee der Kollektion verstehen können.

Den Esstisch in ihrer Wohnung zieren drei Topfpflanzen, an der Wand hängen erste Skizzen, wie ihre Kollektion ausschauen könnte. Ihre Kleidungsstücke fallen eher schlicht aus. Sind sie farbenfroh, steht das für die Zeit, bevor junge Menschen in die Magersucht reinrutschen. Bei manchen Teilen verblassen die Farben den Ärmel oder den Rock entlang. Ist ein Kleidungsstück komplett weiß, symbolisiere das, sagt Aline, ein schlimmes Krankheitsbild.

Mit dem Nähen hat sie erst vor einem Jahr begonnen, sie hat es sich selbst beigebracht. Vergangenen Sommer hat Aline ihr Medizinstudium aufgegeben, um sich an der Royal Academy of Fine Arts in Antwerpen zu bewerben – für die Aufnahmeprüfung entwickelt sie gerade ihre Magersucht-Kollektion. Mode statt Medizin? Eigene Kollektion statt weißer Kittel.

Sie war enttäuscht vom Studium: „Ich habe mit Medizin angefangen, weil ich Menschen helfen wollte“, sagt sie. Im Studium sei es aber nur darum gegangen, wie der Körper funktioniert, aber nicht, wie es in dem Menschen aussieht. Als Aline mit Patienten zu tun hatte, hat sie bemerkt, dass viele lange nicht zum Arzt oder zum Psychologen gehen, um sich helfen zu lassen. Gleiches hat sie bei ihren magersüchtigen Freundinnen bemerkt – ihnen will sie mit ihrer Kollektion eine Stimme geben und damit ausdrücken: „Hey, du bist nicht alleine damit und ich verstehe dich. Es ist nicht schlimm, dass du krank bist.“ Die Menschen sollen merken, was es heißt, magersüchtig zu sein. Die Kollektion ist keineswegs nur für magersüchtige, sondern für alle. Aline möchte damit ein Tabu in der Modewelt brechen. „Mode hat eine hohe Reichweite und kann daher mehr bewirken“, sagt sie.

Mode hat sich eher spät zu Alines Leidenschaft entwickelt: „Ich war nie eine, die schon von klein auf wusste, dass sie Modedesignerin werden möchte, oder die, die Kleidung ihrer Mutter getragen hat.“ Sie fiel jedoch immer auf, indem sie in der Schule Baggy Pants und Wanderstiefel getragen hat. Erst im Laufe ihres Studiums hat sie gemerkt, wie viel Spaß es ihr macht, mithilfe von auffälligen Klamotten und buntem Make-up ihren Gefühlszustand auszudrücken: „Du kannst mit Mode allen zeigen, wenn es dir schlecht geht oder du dich wie ein rosa Einhorn fühlst.“ Genau das ist der Grund, weshalb sie sich für ihre Bewerbung an das Thema Magersucht wagt. Sie möchte den Gefühlszustand betonen und das ihrer Meinung nach vorherrschende Tabu der Krankheit brechen. Zwar werde bereits etwas gegen Magermode getan, indem beispielsweise Models in Frankreich einen bestimmten Body-Mass-Index nicht unterschreiten dürfen. Doch ihrer Meinung nach umgeht man das Problem, anstatt es direkt anzusprechen: „Indem man Magermodels verbietet, verschwindet die Krankheit nicht. Man setzt sich nicht damit auseinander, wie es genau zur Krankheit kommt. Und genau das möchte ich thematisieren.“

Wenn Aline über ihre Entwürfe spricht, merkt man, dass die Medizin und der menschliche Körper darin weiterhin sehr präsent sind. Sie beschreibt ihre Ideen mit medizinischen Begriffen oder verwendet Materialien aus diesem Bereich. Dazu gehört beispielsweise die Jacke aus Gips.

„Wenn man sich einen Arm bricht, benutzt man Gips, um den Arm zu stabilisieren und damit zu beschützen. Doch du kannst dich nicht mehr damit bewegen: Es raubt dir deine Freiheit“, sagt sie. Parallelen findet sie in der Magersucht: „Man fühlt sich gefangen und es ist schwer, da wieder herauszukommen.“

Zurzeit arbeitet Aline in einer Boutique für Maßkonfektion – nicht nur, um weitere Erfahrungen zu sammeln, sondern auch, um Geld für das Studium anzusparen. An die Tausend Euro pro Semester kostet die Schule. Aber noch steht längst nicht fest, ob sie angenommen wird. Bewerbungsschluss ist im März, das Aufnahmeverfahren ist schwierig: Das Portfolio wird bewertet, zudem steht ein zweitägiges Auswahlverfahren an. Dort müssen die Bewerber zeigen, dass sie nicht nur modetechnisch, sondern auch künstlerisch begabt sind. Von 300 Bewerbern jährlich werden nur zwanzig genommen. Am Ende schafft nur knapp die Hälfte der Studierenden den Abschluss des vierjährigen Studiums.

Doch all das hält Aline nicht davon ab, sich dort zu bewerben. „Es ist die einzige Schule, die ich bisher kenne, die Anthropologie und Psychologie anbietet. Und diese Bereiche sind mir sehr wichtig.“ Auch findet sie, dass die Individualität in Antwerpen am meisten gefördert wird: „Bei anderen Modeschulen hatte ich den Eindruck, dass sie vermitteln wollen, wie man perfekt für Balmain zeichnen oder den Fendi-Style gut nachahmen kann. Ich habe Medizin nicht aufgegeben, um binnen einer Woche T-Shirts nach vorgefertigtem Maß zu designen, denn da wäre ich genauso unglücklich gewesen.“

Die Austauschbarkeit ist das, was sie am meisten in der Modewelt stört. Es gebe kaum noch Marken, die sich von der breiten Masse abheben. Die Geschäfte in der Fußgängerzone hat sie seit zwei Jahren nicht mehr betreten. Ihr fehlt die Diversität: „In der kommerziellen Mode gibt es jeden Monat eine neue Kollektion. Es steht nicht mehr für etwas, Individualität ist kaum noch vorhanden.“

Vor allem möchte sie mit ihrer Kollektion zeigen, dass Mode keinesfalls oberflächlich sein muss. Auch deswegen hat sie sich für das Thema Anorexie entschieden. Häufig sind die Leute überrascht, wenn sie erfahren, dass sie Abitur gemacht und mehrere Jahre Medizin studiert hat: „Menschen denken, dass man, wenn man Mode mag oder sich gerne zurechtmacht, dumm und oberflächlich ist. Nur weil ich Mode mag, bedeutet es nicht, dass ich weniger Allgemeinwissen habe.“


Text:
Serafina Ferizaj 

Fotos: Stefanie Preuin, Serafina  Ferizaj (2)

Eine Frage der Inspiration

Die Modedesign-Studentin Anna Wiendl findet den Münchner Stil zu glatt. Deshalb entwirft sie Mode mit barocken Elementen und viel Chichi- bunt und verrückt

Mind Control steht auf dem DIN-A 3 Papier. Pfeile kreuz und quer. Eine Verbindung zwischen den Kleidungsstücken. Ein Versuch. Annas erster Versuch. Sie ist im dritten Semester Modedesign, als sie ihre erste eigene Kollektion entwirft. Der Film „Shutter Island“ mit Leonardo di Caprio in der Hauptrolle dient ihr als Inspiration. Dunkle Farben, ein weißer Stoffknäuel stellt das Gehirn dar. Ein widerkehrendes Element in ihrer Kollektion. Auf einem Shirt, auf einer Tasche, auf einem Kleid. „Ich wollte mich erst mal auf die Schnitte konzentrieren“, sagt die 21-Jährige. Während sie mit ihren metallic-grün lackierten Fingernägeln über das vor ihr liegende Mood-Bord wischt. „Ich würde heute einiges anders machen“, sagt sie. Sie lächelt. Die Haare trägt sie halb-offen. Immer wieder zupft sie an ihren langen braunen Haaren. Drapiert sie auf ihrer Bluse im Barock-Stil. Ein routinierter Griff. „Ich mag Rüschen“, sagt sie. 

Anna fällt gerne auf. In der Schule geben ihr die Klassenkameraden täglich neue Spitznamen. Immer passend zum Outfit. „Wenn ich grün getragen habe mit Military Boots, dann war ich die Army Anna“, sagt sie. Es sei aber auch nicht schwer gewesen, dort aufzufallen, wo sie herkommt. Die Kosenamen waren ihr recht. „So wusste ich wenigstens, dass ich anders aussehe als die anderen“, sagt sie. Anna kommt aus Dinkelsbühl in Mittelfranken. Sie wollte raus. Deshalb bewarb sie sich nach dem Abitur auf der Hochschule für Modedesign in München. Ihre Mutter hat sie ermutigt. „Ich habe mich eigentlich schon immer hauptsächlich mit Mode beschäftigt“, sagt sie. Bloß nicht aussehen wie alle anderen. Schon früh exterminiert sie mit ihrer eigenen Kleidung. Hosenbeine ab, Farbkartusche drauf. Und schon war die Klamotte ein bisschen mehr Anna. 

Bei der Aufnahmeprüfung schreibt sie über Vivienne Westwood. Die inzwischen sehr kommerzielle Punk-Oma der Modebranche. Westwood arbeitet viel mit schwarz. Kein Zufall, dass sich das auch in Annas erster Kollektion findet. Sie spricht viel über Inspirationen. Und die Suche nach ihrem eigenen Stil. Mode und Zeichnen habe viel mit der eigenen Persönlichkeit zu tun, eine eigene Handschrift zu finden sei nicht leicht, sagt sie. 

In London macht sie ein Praktikum bei Peter Jensen. Die Realität holt sie ein. „Dort habe ich gelernt, dass Design nicht alles ist. Es ist vor allem Vertrieb, Produktion, Marketing“, sagt sie. Sie macht Botengänge, schneidet Stoffe zu, bestickt Socken. Drei Monate lang. Dann geht es nach Berlin. Zwei Monate. Bei Steinrohner werden die Botengänge weniger. Sie lernt, Pailletten zu sticken. Ein ganzes Kleid voller Pailletten. Eine Sisyphusarbeit. „Ich hätte nie gedacht, dass mir das Spaß macht“, sagt sie. 

Anna steht kurz vor ihrem Abschluss. Im Februar muss ihre Bachelor-Kollektion stehen. Sie sei jetzt am Ende ihres Studiums mehr bei sich und habe ihren Stil gefunden, sagt sie. Den Münchner Stil vergleicht sie mit einer Schuluniform. „Hier tragen fast alle einen grünen Parka, Nike Airs und skinny Jeans. Und ich bezweifle, dass sich alle damit wirklich wohlfühlen“, sagt sie. Auch mit studentischem Budget könne man sich von der Masse abheben. „Ich habe in München Vintage für mich entdeckt“, sagt sie. So könne man auch vermeiden, dass man immer sehe woher das Kleidungsstück kommt, wie beim Gelb von Zara oder dem Rot von H&M.

Ihre Abschlusskollektion soll deshalb mehr nach London aussehen. Bunt und verrückt. Weiblich aber lässig. Nicht mehr nach Westwood, sondern eher in Richtung Molly Goddard. In ihrem Skizzenbuch klebt dieses Mal Prescilla Presley. Sie habe ein Buch zum Mythos um das berühmte Paar gelesen und den wolle sie mit ihrer Kollektion hinterfragen. Eine Winterkollektion. Die Farben: bunt, aber gedeckt mit viel Army-Grün.  

Text: Esther Diestelmann

Fotos: Vanessa Bärnthol