In Rufweite von Mama

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Mit Abitur steht einem die Welt offen. Aber was ist, wenn die eigene Welt nicht weiter reicht als eine Autostunde?

Gerade noch habe ich dem jungen Mann mir gegenüber einen Vortrag darüber gehalten, warum er sich für sein Medizinstudium auch in Dresden bewerben sollte: Man kann sogar mit einem Schnitt von 2,5 einen Studienplatz bekommen, die Stadt ist spannend, und die Mieten sind niedrig. Aber der Abiturient teilt meinen Enthusiasmus nicht. Er will in München bleiben, erklärt er mir. Dann muss er sich keinen neuen Sportverein suchen und spart sich – dank Mama – viel Zeit bei Einkaufen, Waschen und Kochen. So einfach ist das. Und ich sage erst einmal nichts mehr.

Ich weiß, das sind Gründe. Gründe, die vor ihm sicher viele hatten. Ich habe nur noch nie jemanden getroffen, der so dazu steht, dass frische Wäsche und warme Mahlzeiten das Abenteuer eines eigenen Lebens in den Schatten stellen. Ich muss an Hanna denken, die sich nur von trockenen Spaghetti ernähren würde, wenn ihr das die Mittel verschaffte, um von zu Hause auszuziehen. Bevor ich aber anfange, ihm von ihr zu erzählen, fällt mir auf: Auch Hanna würde nicht nach Dresden gehen – und dass, obwohl sie sich dort viel Soße für ihre Nudeln leisten könnte. Aber lieber würde Hanna in einem Münchner Loch Spaghetti knabbern, als in einer Altbauwohnung außerhalb Bayerns Drei-Gänge-Menüs zu verspeisen. Und da sagt noch jemand, die Jugend von heute fühle sich ihrer Heimat nicht verbunden. Also David sagt das bestimmt nicht. Der sagt genau das Gegenteil – ich muss mir das häufiger anhören.

Aber David hat irgendwo recht. Das merke ich, als wir seine Mutter in der Nähe von Bielefeld besuchen. Davids Mutter ist Lehrerin. Deshalb kommt der Abend, an dem wir 15 Abiturienten gegenübersitzen: Kurstreffen. Sie sind, wie man in der Abiturzeit so ist: aufgekratzt, euphorisch, der normalen Welt ein Stück entrückt. Im Angesicht der unbegrenzten Möglichkeiten möchte eine von ihnen das Bielefelder Umland verlassen. Eine einzige! Der Rest bleibt in Rufweite von Mama. Ich spüre, wie David neben mir unbehaglich auf dem Sofa herumrutscht. Später wird er mir sagen, wie sehr er sich darauf freut, nach dem Heimaturlaub endlich wieder alleine einkaufen, waschen und kochen zu können – all die spannenden Abenteuer, die man nur erlebt, wenn man hinaus in die weite Welt zieht. Susanne Krause

Jugend: Das bedeutet Nestflucht. Raus aus der elterlichen Einbauküche, rein ins Leben. Nur dauert es dann nicht lange, bis man sich einen Pürierstab zum Geburtstag wünscht – oder Sehnsucht nach Mamas Gulasch hat. Eine Kolumne über das Zuhause, was auch immer das sein mag. „Bei Krause zu Hause“ erscheint im Wechsel mit der Kolumne „Beziehungsweise“.

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Geboren in der östlichsten Stadt Deutschlands, aufgewachsen in der oberbayrischen Provinz: Susanne Krause musste sich schon früh damit auseinandersetzen, wo eigentlich ihre Heimat ist – etwa wenn die bayrischen Kinder wissen wollten, was sie für eine Sprache spreche und wo „dieses Hochdeutschland“ sei.