Alles ist möglich

Samuel Flach, 25, plant ein besonderes Projekt: Bei
„Gemeinwohlwohnen“ sollen Flüchtlinge, Menschen mit Behinderung und Studierende
zusammenleben

Samuel Flach liegt in seinem Bett. Er starrt die Decke an. Er schaut auf die Uhr. Eigentlich müsste sein Assistent schon längst da sein. Er fischt nach seinem Handy. Akku leer. Alleine aufstehen kann er nicht. Samuel ist querschnittsgelähmt. „So eine Situation ist scheiße, so richtig, richtig scheiße. Alltag ist das nicht, aber es kann passieren, zum Beispiel wenn mein Assistent in der U-Bahn feststeckt.“  
 

Samuel lebt in einer Wohngemeinschaft mit einer Mitbewohnerin, die ihm hilft und bei ihm angestellt ist. Eigentlich ein super Prinzip, aber wenn einer mal länger weg bleiben will oder seine Mitbewohnerin mal nicht da ist, ist es schwierig. Deswegen kam Samuel auf die Idee, dass es besser wäre, mit mehr Menschen zusammenzuwohnen. Als er dann auch noch zufällig auf Alejandro Hünich traf, der sich in einem Projekt engagiert, in dem Flüchtlinge und Studierende gemeinsam leben, entstand die Idee zu einem ganz besonderen Wohnprojekt: Gemeinwohlwohnen, ein Projekt, in dem Flüchtlinge, Menschen mit Behinderung und Studierende zusammenleben sollen. „Alle Mitbewohner und Mitbewohnerinnen, ob mit oder ohne Behinderung, könnten von dem Wohnkonzept profitieren und selbstbestimmter leben“, sagt Samuel. Von dieser Idee ist er überzeugt.
 

Samuel sitzt seit seinem 20. Geburtstag im Rollstuhl. Jetzt ist er 25. Damals hatte er ein Jahr Zivildienst in Uganda gemacht und fuhr zum Abschluss und zur Feier seines 20. Geburtstages nach Sansibar, einer kleinen Insel vor Tansania. Direkt nach der Ankunft rannte er über den Strand und machte einen Hechtsprung ins Meer. Dabei stieß er mit dem Kopf vermutlich gegen eine Sandbank. Ein Halswirbel zersplitterte.
 „Ich würde sagen, es war ziemlich knapp“, sagt Samuel. „Ich war ja bei Bewusstsein, aber ich kam halt nicht raus und hatte auch nicht mehr viel Luft.“ Aber Einheimische am Strand sahen ihn, zogen ihn sofort aus dem Wasser und holten Leute von der ansässigen Tauchschule. Mit Plastikflaschen wurde sein Kopf stabilisiert, damit nicht noch mehr kaputt gehen konnte. Er musste schleunigst operiert werden, so viel stand fest. Aber es gab keinen Hubschrauber auf der Insel. Letztendlich organisierte und bezahlte ein tansanischer Manager einen Safari-Hubschrauber, der Samuel nach Daressalam flog. Dort wurde er untersucht und weiter nach Nairobi gebracht, wo er operiert werden konnte. Nach zehn Tagen kam Samuel nach Deutschland in die Unfallklinik in Murnau, wo er ein halbes Jahr verbrachte.
 

Seine Stimme ist leiser geworden, während er über seinen Unfall redet. Aber genauso fest. „Ich habe das schon so oft erzählt“, sagt er. „Immer wieder fragen mich Leute mit mitleidigem Blick, was mir denn passiert sei. Die können sich einfach nicht vorstellen, dass der Rollstuhl für mich inzwischen Alltag ist.“ Er sitzt in seiner Küche am Tisch. Bunt kariertes Hemd, Haare zurückgebunden. „Klar war das ein Bruch in meinem Leben“, sagt er, überlegt kurz und widerspricht sich dann: „Nein: Mein Leben ist mein Leben.“
 Nach dem Aufenthalt in der Klinik in Murnau war er wiederholt in einer Reha in Pforzheim. Sie versprachen viel. Sogar, dass Querschnittsgelähmte wieder laufen könnten. Bei ihm passierte das nicht. Nach fast einem Jahr Reha beschloss er zu studieren: „Ich wollte nicht länger mein Leben damit verbringen, nach einem Ziel zu streben, dass ich vermutlich nie erreichen würde“, sagt er. „Es ist jetzt einfach so. Ich sitze im Rollstuhl. Mittlerweile ist das normal geworden.“

Er wohnt seit vier Jahren in München, hat gerade seinen Bachelor in Ethnologie gemacht. Jetzt hat er sich für einen Bachelorstudiengang Statistik angemeldet. Um ganz was anderes auszuprobieren, wie er sagt. Er engagiert sich viel, macht bei einem inklusiven Theaterprojekt an Mittelschulen mit und ist aktiv in dem Verein für Jugendaustausch, mit dem er selbst in Uganda war. Außerdem reist und schreibt er viel. Aber auch sein Projekt Gemeinwohlwohnen nimmt ziemlich viel Zeit in Anspruch. Allein zwei bis drei Tage pro Woche beschäftigt er sich ausschließlich mit dieser Idee.
 Seit Anfang 2016 arbeiten er und Alejandro an dem Konzept. Kernidee ist, dass Menschen mit Behinderung ihre Mitbewohner anstellen und mit ihrem Pflegegeld bezahlen. Dadurch haben Studierende und Flüchtlinge, die Arbeit suchen, die Möglichkeit, auf Minijob-Basis zu arbeiten. Außerdem können Flüchtlinge durch das Zusammenleben leichter Deutsch lernen – und durch eine Wohngemeinschaft werden die Mieten günstiger. Es ist ein Vorhaben, das für alle Vorteile schafft. Aber auch Bildungsarbeit soll es leisten und die dort gelebten Werte wie Toleranz und Inklusion sowie die Idee an sich an die Öffentlichkeit tragen. Daher hätten sie auch gerne einen Gemeinschaftsraum. Manchmal träumen sie sogar von einem Café.
 

Mittlerweile ist das Projekt gewachsen. Gemeinsam mit den Mitgliedern eines schon bestehenden Wohnprojekts haben Samuel und einige Freunde den Verein Zusammen-Leben gegründet. Dieser dient als Trägerorganisation. Jetzt suchen sie nach einer Wohnung, die groß genug für etwa acht Leute ist, halbwegs zentral liegt und dann gemeinsam barrierefrei umgebaut werden soll. Alle städtischen Ämter, mit denen Samuel gesprochen hat, seien begeistert von der Idee, sagte er, haben aber kein Haus zur Verfügung.
 Die Suche nach geeigneten Unterstützern ist nicht einfach: „Wir passen in keine Schublade“, sagt er. Die meisten Wohnprojekte mit Behinderten managen große Trägerorganisationen. Außerdem kommt die Hilfe meist von außen. Dass das Projekt autonom ist, ist Samuel sehr wichtig. Es geht nicht um Hilfe, sondern darum, selbstbestimmt und gleichberechtigt zusammenzuwohnen. Auch wenn das schwierig ist, wenn Geld und Wohnung fehlen.
 Probleme könnte es natürlich auch beim späteren Zusammenleben geben. „Aber es ist ein Projekt, das von den Problemen leben wird“, sagt Samuel, „man kann das nicht vorher planen. Es kann schiefgehen, aber es ist halt ein Prozess.“

Während Samuel erzählt, gestikuliert er viel. Seine Hände zeigen alles Mögliche in der Luft. Samuel kann begeistern.
Natürlich hat sich sein Leben verändert. Aber natürlich ist er immer noch derselbe Mensch, der dieselbe Begeisterung und dieselbe Organisationskraft ausstrahlt. Und auch seine Zukunftspläne haben sich nicht wirklich geändert. In Uganda hat er eine Liste mit Zukunftsideen angefangen. Und als er diese nach dem Unfall wieder durchgegangen ist, hat er gemerkt, dass er nichts streichen muss. „Das ,wie‘ verändert sich natürlich, aber es ist trotzdem möglich.“ So reist er trotzdem ständig durch die Gegend, denn „Reisen und Schreiben wird mich mein Leben lang begleiten“, sagt er. Also verbrachte er ein Semester in Kuba, machte eine Reise nach Indien und jetzt plant er schon seinen nächsten Trip. Zurück nach Uganda und Sansibar. Vor allem seine Freunde aus Uganda will er wiedersehen und sich sogar überlegen, dort vielleicht später mal eine Feldforschung zu machen. Auch in Sansibar will er an denselben Ort zurück. Will seine Retter von damals wiedertreffen. Will vielleicht sogar mit ihnen tauchen gehen. Denn das haben sie ihm damals versprochen: Es ist alles möglich, was sich ändert, ist nur das ‚wie‘.

Von: Mariam Chollet

Foto: Stephan Rumpf

Der ganz normale Wohnsinn

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Tobias Polsfuß, 23, hat Deutschlands erste inklusive WG-Plattform gegründet. Er vernetzt Wohngemeinschaften von Behinderten und Nicht-Behinderten und wirbt für diese Art des Zusammenlebens.

Da bist du ja, meine Knutschpuppe!“ Das ist das Erste, was Walter zu Tobias gesagt hat. Der stand gerade mit gepackten Kisten vor der Tür und war im Begriff einzuziehen. Nicht gerade die typische Begrüßung für einen neuen Mitbewohner. Aber die beiden leben auch in keiner typischen Wohngemeinschaft. 

Ihre Wohngemeinschaft ist inklusiv: Hier im Norden Münchens wohnen Menschen mit und ohne Behinderung zusammen. Vier mit Behinderung, fünf ohne. 2015 ist ihre WG zehn Jahre alt geworden, eine helle Wohnung mit großer Wendeltreppe und langem Holztisch. Hier essen die Mitbewohner zusammen, diskutieren, schauen gemeinsam Fußball. Bunte Papiersterne mit Fotos hängen an der Wand.

Tobias Polsfuß, 23, lebt mittlerweile schon seit drei Jahren dort – und hat sich längst an Walters gelegentliche Gefühlsausbrüche gewöhnt. Gemeinsam mit Freunden hat er nun Deutschlands erste inklusive WG-Plattform gegründet: Wohnsinn.org. Sie soll Wohngemeinschaften vernetzen, voneinander lernen lassen – und vor allem: bekannter machen. Auch vermitteln sie auf ihrer Internetseite Wohnmöglichkeiten. „Wenn ich über meine WG spreche, bekomme ich immer dieselbe Reaktion: wow, cool! Davon habe ich noch nie gehört“, sagt Tobias. Auch er selbst erfuhr eher zufällig vom inklusiven Wohnen, als er von Landshut zum Studium nach München zog. 

60 Prozent aller geistig behinderten Erwachsenen leben noch bei den Eltern – oft, weil es keine andere Möglichkeit gibt. Tobias und sein Team wollen eine Alternative bieten. „Unser Ansatz ist eher, das Gute groß zu machen, statt negativ über das Andere zu sprechen.“

„Wohnsinn“ soll vor allem junge Leute dazu ermutigen, inklusive WGs zu gründen: In Österreich und Deutschland gibt es gerade einmal 30 Projekte. In München sind es sieben, initiiert vom Verein „Gemeinsam Leben Lernen“. Manche sind privat organisiert, andere laufen über Trägervereine. Einige engagieren externe Pflegedienste, andere nicht. Sie unterscheiden sich in der Anzahl der Bewohner, im Verhältnis zwischen Menschen mit und ohne Behinderung – und natürlich darin, welche Charaktere dort aufeinandertreffen.
Der letzte Lachkrampf, der letzte Streit, der Lieblingsplatz: Die Wohnsinn-Website soll Anekdoten über das WG-Leben erzählen. Das ist mal chaotisch, mal anstrengend, aber auch schön und voller Gemeinschaft – wie in jeder anderen WG auch.

Gesa, die gerade ein Praktikum bei der Lebenshilfe macht, lebt seit 2013 in der WG. „Hier ist immer was los“, sagt sie. Die 20-Jährige mit den dunklen Haaren ist aktiv und quirlig. Mit sanfter Stimme erzählt sie von ihrem Freund, ihren Hobbys – Kinobesuchen, Clubbing, Fahrradfahren. Einer ihrer Lieblingsmomente mit ihrem Mitbewohner Tobias: Einmal fuhren sie von der Physiotherapie nach Hause. Als sie an der roten Ampel standen und eins von Gesas Lieblingsliedern im Radio kam, fingen beide an, im Sitzen zu tanzen. Ein Busfahrer auf der Nebenspur rollte das Fenster herunter, grinste und legte auch eine Tanzeinlage hin. Bei der Erinnerung daran müssen beide lächeln. „Es war richtig schade, als es dann grün wurde.“ 

Gerade sind sie zu neunt in den Urlaub nach Kroatien gefahren, feierten in einer Strandbar den Geburtstag eines Mitbewohners und sangen bei Cocktails lautstark Radio-Songs mit. „Wir haben es so genossen“, schwärmt Mitbewohnerin Tessi, 30. Sie hat das Down-Syndrom und arbeitet in einer Werkstatt für Tee-Verpackungen. Ihren Alltag schafft sie gut allein, braucht aber doch manchmal Hilfe: beim Kochen, beim Wäschewaschen, bei Ausflügen, auch beim Duschen. Als perfekt ausgebildeter Pfleger muss niemand in die WG kommen: Tobias hat zwar einen Bachelor in Pädagogik und in Athen in einer Tagesstätte für Menschen mit geistiger Behinderung gearbeitet – aber das ist keine Voraussetzung. Ein Mitbewohner studiert Sportwissenschaften, eine arbeitet beim Patentamt. Neben Einführung und Probedienst hilft es oft einfach, viele Fragen zu stellen. „Jeder Mensch mit Behinderung ist Experte für sich selbst“, sagt Tobias. Als er seinem Mitbewohner Walter zum ersten Mal beim Duschen half, vergaß er, ihm die Füße abzutrocknen – und wurde prompt darauf hingewiesen. 

Einmal pro Woche hat Tobias Tagesdienst, einmal pro Monat muss er sich ein Wochenende freihalten – von Freitag um 14 Uhr bis Montag um 7.30 Uhr. „Man gibt schon ein Stück Privatsphäre auf“, sagt Tobias. „Aber das tut man in jeder WG.“ Wer nicht dran ist, muss auch mal Nein sagen können. Tobias hat an diesem Abend frei. Doch mitten im Interview kämpft ein Bewohner mit der Plastikverpackung einer Keksdose, ein anderer insistiert aufs Duschen. „Musst mal wen anders fragen“, sagt Tobias, freundlich, aber bestimmt. Selbstbestimmung, das zentrale Thema der Inklusionsdebatte, gilt auch für Menschen ohne Behinderung. 

Auch wenn die Bewohner mindestens zwei Jahre bleiben: Manchmal zieht doch jemand Neues ein. Dabei hilft eine eigene Plattform – stellt man die Anzeige auf ein konventionelles Wohnportal, interessieren sich meist viele nicht. Mit ihren Erfahrungen touren Tobias und sein Team durch Deutschlands inklusive WGs. Sie halten Workshops ab und geben Ratschläge. Gerade in einer Stadt wie München ist die Suche nach einer barrierefreien Wohnung schwierig.
Auch müssen häufig besorgte Familien beruhigt werden. Die Eltern haben Angst, ihre behinderten Kinder fremden Studenten anzuvertrauen. „Sie sagen oft, die sind doch chaotisch“, sagt Tobias und schmunzelt. „Aber wenn’s mal läuft, sind alle begeistert.“

Das Projekt soll auch mit Klischees von inklusivem Wohnen aufräumen. „Viele stellen es sich verrückter vor, wie im Irrenhaus. Oder im Heim“, sagt Tobias. „Die Leute glauben, unsere Mitbewohner können ohne uns nicht leben. Oder dass wir ihnen etwas geben, was sie nicht haben.“ Dabei opfert sich in der WG niemand füreinander auf. Man hilft einander eben. Und dankt einander mit Wertschätzung. „Der ist klasse, ich mag den so gern! Ich will, dass der nie auszieht“, sagt Tessi und fällt Tobi um den Hals.

Von: Elsbeth Föger

Foto: Daniela Buchholz