Auch wenn das Leben selten geradlinig verläuft, eine Konstante war unserer Autorin bisher immer sicher: die 14 Zentimeter Größenunterschied zu ihrer Freundin Verena. Ein neuer Text unserer Kolumne “Zeichen der Freundschaft”.
14 Zentimeter, die unsere Köpfe voneinander trennen. Eine Distanz, die seit zehn Jahren besteht. Trotz unterschiedlichen Wachstumsphasen, die 14 Zentimeter sind auf jedem Foto zu sehen. Ich war mein Leben lang einen Kopf größer als alle anderen, das verschaffte mir meistens einen Vorteil. Ich hatte immer den Überblick, vor allem über Menschen. Vielleicht entdeckte ich Verena gerade deshalb am ersten Wandertag der neuen, weiterführenden Schule – auch wenn sie damals wahrscheinlich so groß war wie ein Billiardschläger lang. Von diesem Moment an lernten uns die Menschen nur im Doppelpack kennen und für die Lehrer waren wir sicherlich ein lustiges Duo. Selbst ich fühlte mich manchmal an Dick & Doof erinnert.
Wer dabei welche Rolle übernahm, sei dahin hingestellt. Doch wunderte ich mich einige Male wie dieses kleine, schlanke Mädchen mit der Turner-Figur so viel essen konnte wie ich –breite Statur, mit mehr Kraft als Eleganz. Doch Verena aß auch um einiges gesünder als ich.
Statt der Schokolade, die bei mir daheim obligatorisch nach dem Essen war, gab es Obstsalat. Statt dem Schokoadventskalender bekam Verena einen Tee-Kalender und statt Spezi gab es Wasser aus der Leitung. Lange vor der heutigen Zeit von Veganismus und Clean-Eating prägte mich diese Umstellung. Die Krönung unserer Schlemmerzeit war übrigens die „Kühlschrank-Flatrate“, die mir von ihrer Familie lebenslang zugesprochen wurde und von der ich noch heute Gebrauch mache.
Unser Größenunterschied war auch ein Grund, wieso wir uns so fabelhaft ergänzten. Beim Fußball der Schulmannschaft waren wir eine hervorragende Abwehrkette – ich schnell, sie flink. Wenn wir unterwegs waren und uns in der Menge verloren, wartete ich nur darauf, dass sie mich wieder fand. Ich holte ihr in Kleidungsgeschäften Dinge von hohen Stangen herunter und sie gab mir das Gefühl, persönlich zu wachsen. Während sie im Europapark noch nicht groß genug für die Achterbahnen war, war ich zu feige. Doch das machte nichts – unseren Spaß hatten wir sowieso. Einmal bauten wir uns sogar ein Rad mit einem weiteren Sattel auf dem Gepäckträger und fuhren damit herum. Und obwohl ich meistens hinten saß, durfte ich nicht einfach nur faulenzen. Meine Beine waren lang genug, um zu den Pedalen zu kommen und so musste auch ich meinen Teil zur Fortbewegung beitragen. Ein Sinnbild für unsere Freundschaft – sie lenkte, ich gab Antrieb.
Letztens feierten wir Verenas 21.Geburtstag, drei Monate vor meinem eigenen. Auf den Fotos sieht man immer noch: 14 Zentimeter Größenunterschied. Er wird bleiben, denn wir sind ausgewachsen. Ein gutes Zeichen für mich – ich bleibe die Größere.
Text: Sandra Will
Foto: Yunus Hutterer