Zeichen der Freundschaft: Die Große und die Kleine

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Jenny ist klein, ihr Freundin Marie ist groß. Das ist es, was sofort auffällt, wenn man die beiden nebeneinander stehen sieht. Und vielleicht sieht das für Außenstehende komisch aus. Doch Jenny und Marie stehen da schon lange drüber – ungeachtet ihres Größenunterschiedes. Eine neue Kolumne aus der Reihe “Zeichen der Freundschaft”.

Ich war schon immer die Kleinste, überall. Manche erzählen, dass sie in der Grundschule zu den Größeren gehört haben und erst nach und nach vom Wachstum der anderen überholt wurden. Bei mir war das nie so. Ich war immer die Kleinste, egal wo. Ich bin es heute noch. Eine, auf deren Schultern man gut seinen Arm ablegen kann. Wenn einer meiner Bekannten mir Musik auf einen USB-Stick zieht, heißt der betreffende Ordner „Musik für den Zwerg“.

Ich finde das inzwischen nicht mehr schlimm. Ist ja auch nicht so, als könnte ich etwas daran ändern. Es gibt nur eine Person, die das versteht. Versteht, was man so alles durchmachen muss, wenn die Körpergröße aus der Norm fällt: Marie. Marie ist kein Zwerg, nein. Im Gegenteil. Wenn man beim Märchenvokabular bleiben möchte, dann ist sie mein Gegenstück: ein Riese. Ich bin nicht mal 160 Zentimeter hoch, Marie ist dafür über 180 Zentimeter groß. Sieht das komisch aus, wenn wir nebeneinander stehen? Ja, ich glaube schon.

Aber das Schönste an Marie und mir ist, dass wir uns so gut kennen, so aneinander gewöhnt haben, so viel gemeinsam unternommen, dass wir unseren Größenunterschied nicht mehr bemerken.

Wenn wir gelegentlich Fotos von uns betrachten, erschrecken wir. „So sieht das doch nicht wirklich aus, wenn wir nebeneinander her laufen oder?“ Doch, genau so! Macht nichts. Nerven Marie die Sprüche über ihre Größe, wenn sie einen Raum betritt? Ja, aber auch nicht mehr so wie früher. Trotz Größenunterschied stehen wir beide drüber. Weit drüber. Und wir haben ja einander. Wir verstehen uns.

Und das Bild, das am besten zeigt, was und verbindet, das wurde nie auf Fotopapier gedruckt, aber es hat einen festen Platz in unserer gemeinsamen Erinnerung: Ich auf dem Gepäckträger von Maries Fahrrad – die Beine musste ich dabei ja kaum einziehen – Marie vor mir auf dem Sattel. Wir fahren lachend und singend durch die Maxvorstadt, mein Hintern tut weh, Marie bekommt vom treten Hitzewallungen, aber wir genießen unser Jugendtage in vollen Zügen. Und wenn auch das Fahrrad gelitten hat, wir sind immer angekommen!

Noch heute, bin ich die einzige, die Marie fragen darf, ob sie mir etwas vom obersten Regal runter reichen kann, ohne dass sie genervt ist. Ich wiederum würde für Marie unter jeden Schrank und jedes Regal kriechen. Klein genug bin ich ja. 

Von: Jennifer Lichnau

Foto: Yunus Hutterer