Den Geisteswissenschaften wirft man gerne vor, zu theorielastig zu sein. Dabei bringen sie einem viel übers Leben bei – etwa, dass verwirrtes Herumgeschlurfe einfach dazugehört.
Geisteswissenschaftliche Studiengänge haben den Ruf, man würde dabei nichts über das wahre Leben lernen. Mein Bruder nennt sie deshalb
gern Geisterwissenschaften. Von wegen: Sie sind überhaupt die einzigen
Studiengänge, die den demografischen Wandel unserer Gesellschaft erlebbar
machen.
Da wäre etwa Sokrates, der Seniorenstudent. Sein Alter
kennen wir genauso wenig wie seinen richtigen Namen. Sokrates spukt wie ein
Geist durch die Geisteswissenschaften. Er kommt stets zehn Minuten zu spät
gebückt in den Hörsaal geschlurft. Im Laufe der nächsten halben Stunde wechselt
er mindestens drei Mal den Platz und verlässt die Vorlesung dann, ehe sie
vorbei ist. Sokrates erinnert uns daran, dass verwirrtes Herumgeschlurfe kein
Phänomen ist, das allein Erstsemestern vorbehalten ist, sondern auch uns
irgendwann ereilen wird. Studenten technischer Fächer bleibt diese wichtige
Lektion bis ins hohe Alter verwehrt.
Nur ist das eigentlich eine Lektion, die man während des
Studiums so gar nicht auf dem Stundenplan haben möchte. Seniorenstudenten sind
deshalb nicht die beliebtesten Kommilitonen. Sie haben viel zu viel Zeit, um
alle guten Plätze zu besetzen, ehe man gerade noch pünktlich in den Saal
gehetzt kommt. Die Wartezeit nutzen sie dazu, sich abwegige Fragen auszudenken.
„Kann man Ente unter Vogel subsumieren?“, zum Beispiel. Judith und ich erinnern
uns noch sehr gut an dieses Rätsel aus dem ersten Semester.
Inzwischen hat Judith ihr Studium der Geisterwissenschaften
abgeschlossen und bewirbt sich für die Promotion. Währenddessen spukt sie an
der Uni herum. Wir hätten wohl nie gedacht, dass es so schnell gehen kann, aber
Judith ist schon mit Mitte zwanzig zur Seniorenstudentin geworden: Sie sitzt in
ihrer Freizeit auf einem der guten Plätze in einem Literaturseminar über
Menschenfresser und rollt fleißig mit den Augen, wann immer Studenten völlig
abwegige, zeitverschwendende Fragen stellen: Wann die Prüfung sei, zum
Beispiel. Wen interessiert gleich noch mal das wahre Leben?
Von Susanne Krause