Für einen Abend Kind

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51 Wochen im Jahr versucht man seine Familie davon zu überzeugen, dass man erwachsen ist. Dann kommt Weihnachten und macht alles zunichte.

Es ist egal, ob man gerade seinen Realschulabschluss macht oder soeben das Medizinstudium beendet hat. Wenn man an Weihnachten frisch gekämmt neben dem Christbaum steht und darauf wartet, Oma zu begrüßen, fühlt man sich kein Jahr älter als zehn. Und auch wenn Oma jedes Jahr aufs Neue beteuert, wie erwachsen man doch aussehe, wissen insgeheim beide Seiten: Für Omas wird man nie wirklich erwachsen.

Vorher stellt man sich das irgendwie anders vor. Ein Jahr neigt sich dem Ende zu, ein Jahr, in dessen Verlauf man Wohnorte, Partner oder Ideale ausgetauscht hat – wahlweise auch alle drei, wir sind ja schnelllebig – und, hui, wie man da auf einmal im elterlichen Wohnzimmer sitzt, ist einem noch ganz schwurbelig im Kopf von diesem rasanten Leben. Das muss man mir doch ansehen, denkt man sich, das ist doch mehr als offensichtlich.

Nur langsam fährt man die eigene Geschwindigkeit herunter und passt sie der Umgebung an: Die Christbaumbeleuchtung hört auf, vor den eigenen Augen zu tanzen, man sieht ein, dass „Stille Nacht“ sich schon immer so zäh dahinschleppte. Und spätestens nachdem man zu Ex-Freunden aus grauer Vorzeit befragt wurde und die dritte Familienpackung einer Süßigkeit ausgepackt hat, die man nur bis zum Alter von zehn Jahren mochte, ist klar: Heute wird man sich nicht mehr ansatzweise so alt fühlen, wie man ist. Stattdessen wird man das Kind sein, das vor zehn Jahren an genau dieser Stelle saß und eine Großpackung derselben Süßigkeit auspackte.

„Ja, aber das ist doch toll“, sagt Toni, als ich sie frage, ob es ihr auch so geht. Obwohl Toni schon 22 ist, befüllt ihre Mutter noch immer Adventskalender und läutet mit einem Glöckchen zur Bescherung. Dass man sich an Weihnachten fühlt wie zehn, ist ja gerade das Schöne daran, sagt sie. Und wahrscheinlich hat sie recht: Rastlos und nahezu erwachsen kann man sich noch den Rest des Jahres fühlen. Susanne Krause

Jugend: Das bedeutet Nestflucht. Raus aus der elterlichen Einbauküche, rein ins Leben. Nur dauert es dann nicht lange, bis man sich einen Pürierstab zum Geburtstag wünscht – oder Sehnsucht nach Mamas Gulasch hat. Eine Kolumne über das Zuhause, was auch immer das sein mag. „Bei Krause zu Hause“ erscheint im Wechsel mit der Kolumne „Beziehungsweise“.

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Geboren in der östlichsten Stadt Deutschlands, aufgewachsen in der oberbayrischen Provinz: Susanne Krause musste sich schon früh damit auseinandersetzen, wo eigentlich ihre Heimat ist – etwa wenn die bayrischen Kinder wissen wollten, was sie für eine Sprache spreche und wo „dieses Hochdeutschland“ sei.