Fremdgänger: Klassisch flirten

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Wenn man als eingefleischte Münchnerin in die Welt zieht zum Studieren, erwartet einen immer der eine oder andere Kulturschock. Unsere Autorin tauschte Punk-Konzerte im Milla mit klassischen Choraufführungen in Oxford- und wundert sich, wie ähnlich sich die beiden Welten doch sind.

Die mächtigen Tore der Kirche öffnen sich. Eine Menschenmasse ergießt sich in die von Straßenlaternen und den Fenstern der anliegenden Häuser erleuchtete Gasse. Es ist Sonntagabend, der „Evensong“ im Merton College wurde gerade von einer letzten Hymne beendet, wer will, kann jetzt noch dem Priester die Hand schütteln und sich für den schönen winterabendlichen Ausflug in diese verzauberten Hallen bedanken. Mittendrin: ich mit zwei Freundinnen. Wir halten halb abgebrannte Kerzen in den Händen und sehen uns mit verträumten Augen an.

Ich erinnere mich, einen ähnlich seligen Gesichtsausdruck zuletzt auf dem Gesicht einer Freundin aus München gesehen zu haben, als wir nach dem Konzert einer Punkrock-Band in einer nicht ganz so großen Menschentraube aus dem warmgetanzten Milla in die Holzstraße geschwemmt wurden. Weit weg scheint das alles, zwischen all den schicken Wintermänteln, Tweet-Jackets und Pelzmützen der Menschen um mich herum. In Oxford wüsste ich nicht, wo ich in einem kleinen Club zu lauten Gitarrenriffs auf und ab hüpfen könnte. Ich bin mir sicher, diese Clubs gibt es irgendwo außerhalb der Reichweite ehrwürdiger College-Mauern – ich habe sie nur noch nicht gefunden. Dafür bin ich viel zu beschäftigt, die einfacher zu erreichenden kulturellen Höhepunkte abzuklappern. Denn wie sich herausstellt, schaffe ich es hier, innerhalb von sechs Tagen vier klassische Chorkonzerte zu besuchen. Jedes davon ist voll besetzt bis auf die hintersten Reihen, zu einem nicht zu verachtenden Anteil von Studenten. Auf Facebook lädt man sich nicht zu Partys im traditionellen Münchner Sinne ein, sondern zu Symphonien, Theaterstücken, Chören, Buchvorstellungen und Gedichtlesungen. 

Ich ertappe mich dabei zu bemerken, dass auch in kulturell anspruchsvollen Umgebungen – wie einem Konzertsaal oder gar einer Kirche – soziale Dynamiken ablaufen, die denen einer Nacht in der Münchner Club-Szene nicht unähnlich sind. In der Vorweihnachtszeit wurden die in den meisten Colleges regelmäßig abgehaltenen „Evensongs“ (ein anglikanischer Gottesdienst, bei dem es vor allen Dingen um die Musik geht) von „Carol Services“ (dabei geht es noch mehr und vor allem um weihnachtliche Kirchenmusik) ergänzt. Und als ich vor ein paar Wochen einen solchen besuchte, ebenfalls inklusive Kerzen und Weihrauch, begann mein Mitbewohner auf einmal, angeregt mit der langbeinigen dunkelhaarigen Engländerin zu flirten, die vor ihm saß. Sehr elegant, dachte ich mir. Und ich? Ich sitze im mittelalterlichen Kirchenschiff des Merton College und starre fasziniert auf das von einer schiefen Kerze im Kronleuchter über mir tropfende Wachs, als ich merke, wie süß der Typ mir gegenüber ist. Verstohlen schaue ich immer wieder zu ihm hinüber und bin mir fast sicher, dass er hin und wieder sogar zurückschaut. 

Ich werde nervös. Auf einmal ist die hölzerne Kirchenbank ziemlich unbequem. Kurzzeitig wünsche ich mir, ich wäre in München, in einem Club. Da gäbe es zumindest eine Bar, eine Tanzfläche und (zur Not) ein alkoholisches Getränk, hinter dem ich mich effektiv hätte verstecken können, während gleichzeitig zumindest potenziell die Möglichkeit bestanden hätte, mir ein Herz zu fassen und endlich hinüber zu gehen, um ihn anzusprechen. 

Ich schließe die Augen, ich denke zurück an jenen Abend im Milla. Ja, auch da gab es einen Typen auf der anderen Seite der Tanzfläche. Aber auch da hatte ich nicht den Mut, hinüber zu gehen.

Text: Theresa Parstorfer

Foto: Privat