Anderswo ist es immer schöner

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Drei Münchner Filmstudenten machen sich Gedanken über den Sehnsuchtsort – ihr Film läuft diese Woche bei der Berlinale 

Die Blasmusik ist im Probenraum längst verstummt, die Musiker sind nach Hause gegangen. Nur drei sitzen noch im schummrigen Licht auf
den Holzbänken. Ein letztes Mal heben die Männer gemeinsam ein Bier. „Jeder
Mensch hat nur eine Heimat. Da kann er noch so weit gehen, die wird er nicht
los“, sagt einer der Freunde zu Frank. Denn der wird mit seiner Familie aus der
ländlichen Gegend in die Stadt ziehen. Doch in dem Moment, in dem Frank den Ort
verlassen muss, wird ihm bewusst, wie sehr er ihn liebt.

Ein idealer Ort – so heißt das Werk der jungen
Filmstudenten, das diese Woche auf der Berlinale läuft. Ein wenig wie ein
verschworenes Geschwistertrio wirkt das Team (Foto: Lion Bischof). Da sind Isabelle Bertolone, 24,
und Benedikt Weber, 27, gemeinsam haben sie neben dem Studium die junge
Produktionsfirma „WIRfilm“ gegründet. Und dann ist da Anatol Schuster, 29,
Regisseur und Drehbuchautor in einem. Aufgewachsen sind die drei in Klein- und
Großstädten, darunter München. Wie kommt man da dazu, sich mit dem Thema Landflucht
zu beschäftigen? Fasziniert am Stoff hat die drei Filmemacher vor allem der
Widerspruch darin. „In den Städten haben wir Probleme, eine Wohnung zu finden,
und auf dem Land stehen die Häuser leer“, sagt Isabelle. „Dabei gibt es den
gegenläufigen Trend auch“, wirft Benedikt ein. „Die Leute sehnen sich nach
Ländlichem, nach Ursprünglichkeit.“ Selbst am Land leben – das können sich die
drei Filmemacher höchstens in einer Light-Variante vorstellen.

Doch im Film geht es gar nicht so platt darum, Vor- und
Nachteile von Stadt und Land gegeneinander abzuwägen. Im Zentrum steht eher das
Gefühl, das man mit bestimmten Orten verbindet. „Für mich ist ein idealer Ort
ein Sehnsuchtsort“, sagt Anatol. „Das ist das treibende Gefühl in der
Hauptfigur Frank. Und das ist, was die Familie im Film unterscheidet. Alle
haben ihre Bedürfnisse und Sehnsüchte, aber da gibt es dann Barrieren.“ Frank
hat Frau und Kindern versprochen, in die Stadt zu übersiedeln. Doch plötzlich
spürt er eine neue Verbundenheit mit dem Ort. Seine Frau Kathrin sitzt bis zum
Umzug auf gepackten Koffern. Aus den Kindern, der pubertären Tochter und dem
autistischen Sohn, soll etwas werden. Und das geht doch nicht, am Land – direkt
neben der „größten Ferkelfabrik Europas“, über deren Blutgestank Kathrin die
Nase rümpft.

„Ich glaube, ich habe
ein Faible für eine gewisse Trostlosigkeit“, sagt Anatol. Gedreht wurde drei
Wochen lang in Mecklenburg-Vorpommern – Bayern kam nicht in Frage, zu
idyllisch. Der Film zeigt kein beschauliches Postkartendorf, sondern eine
heruntergekommene Peripherie: unschöne Fassaden, abgelebte Häuser, leere
Ortschaften mitten im Nirgendwo. Und dann wieder, ganz unvermutet, Versatzstücke
einer Idylle; Wind, der durch endloses hüfthohes Gras weht. Fünf Tage fuhr
Anatol durch den Norden, ging lange spazieren, bis er den idealen Drehort
gefunden hatte (Foto: Johanna Raimann).
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„Filme machen, heißt immer, Entscheidungen zu treffen“, sagt
er. Wenn man dem jungen Regisseur zuhört, glaubt man sofort, dass er die
Entscheidungen nicht leichtfertig trifft. Der 29-Jährige mit dem strähnigen
schwarzen Haar spricht bedächtig, überlegt viel. Auf den ersten Blick würde man
ihm eine strenge Organisiertheit unterstellen. Doch tatsächlich lief am Dreh
vieles anders als ursprünglich geplant. „Wir wollten eine größtmögliche
Authentizität zwischen den Schauspielern und dem Ort“, sagt Anatol. „Und da
haben wir uns gefragt: Wie kann man glaubwürdig machen, dass die dort leben?“
Die Antwort: indem man die Bewohner einfach mitspielen lässt. Etwa den
selbsternannten Bürgermeister des Ortes. Weil der beleibte Herr mit dem Spitz
jeden Tag neugierig am Dreh vorbeispazierte, überredeten sie ihn zu einer
kleinen Rolle. Die Blaskapelle im Film gibt es genauso wie die Ferkelfabrik.
Als ortsansässige Tierschützer während der Dreharbeiten gegen den Betrieb auf
die Straße gingen, hielten die Filmemacher die Demonstration kurzerhand mit der
Kamera fest.

„So hat sich das
Drehbuch oft weiterentwickelt“, sagt Anatol. Und ihnen einige Flexibilität
abverlangt. An einem Schauplatz des Films, der Tiernotstation, konnte man nur
von neun bis 13 Uhr drehen. Für die jugendlichen Laiendarsteller, die man an
Schulen gecastet und über eine Annonce aufgestöbert hatte, gab es nur
ausnahmsweise schulfrei. Das hieß: Dreh am Wochenende (Foto: Johanna Raimann). „Das war gerade die
Herausforderung und letztlich auch der Charme daran“, sagt Anatol. Authentische
Motive könne man eben nicht ganz für sich beanspruchen. Dafür hätten sich
interessante Begegnungen ergeben: Ein junger Makler stellte ihnen ein desolates
Haus zur Verfügung. Für den Dreh richteten sie es gemütlich ein – so gemütlich,
dass der Makler es schlussendlich verkaufen konnte.
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Professionelle Darsteller für die Hauptrollen zu finden,
dauerte ein halbes Jahr – denn das studentische Projekt sah keine Gagen vor,
aber: „Bei uns haben sie die Möglichkeit, sich anders auszuprobieren als bei
Fernsehfilmen, intensiver zu arbeiten“, sagt Anatol. Und im Gegensatz zu den
Filmemachern selbst, die spartanisch in einem Schullandheim einquartiert waren,
fanden sich über Sponsoren edle Schlafplätze für die Darsteller – in einem
Schloss. Damit, dass einige Schauspieler wesentlich älter waren als er selbst,
kam der junge Regisseur gut zurecht. „Das Schöne war, dass ich mit den
Hauptdarstellern rasch eine gemeinsame Kommunikationsebene gefunden habe. Da
ist das Alter dann gar nicht mehr so entscheidend.“

Auf der Berlinale läuft der Film in der
Kategorie „Perspektive Deutsches Kino“, für die sich das junge Team im
vergangenen Jahr beworben hatte. „Wir sind gespannt und freuen uns sehr auf den
Abend“, sagt Benedikt – aber nicht nur auf die Show am roten Teppich, sondern
auch auf das Wiedersehen mit der Filmcrew. Bis dahin heißt es: DVDs eintüten
und Pressemappen fertigstellen. „Natürlich sind wir alle etwas nervös. Man gibt
sozusagen sein Baby weg“, sagt Isabelle und lächelt noch im Satz über die
Floskel. Wettbewerbsgedanken hätten sie keinen. „Es ist einfach nur schön, dass
,Ein idealer Ort‘ mit den anderen Filmen auf der Berlinale läuft!“

Vor ein paar Monaten hieß das Werk noch „Anderswo“ – bis ein
anderer Film mit gleichem Namen in den Kinos startete. Durchaus ärgerlich. Doch
den Blick zurück, auf eine andere, vielleicht bessere Lösung, verbieten sie
sich. „Für mich gibt es keine andere Version mehr. Es ist der einzig mögliche
Titel“, sagt Anatol mit ein wenig Fatalismus in der Stimme. „Der Film ist so,
wie er ist.“

Elsbeth Föger