Neues Leben


Adnan Albash, 24, lebt seit mittlerweile zweieinhalb Jahren in Deutschland. Weil er aus eigener Erfahrung weiß, wie schwierig es sein kann, sich in einem fremden Land zu integrieren, arbeitet er als Kulturdolmetscher.

Die Tierwelt macht es vor: Zugvögel fliegen jährlich gen Süden und finden sich in ihrer neuen Umgebung problemlos zurecht. Niemand fragt sie, woher sie kommen oder wie lange sie bleiben wollen. Integration leicht gemacht.

Vor seiner Flucht aus Syrien war Adnan Albash, 24, überzeugt davon, dass Integration unter Menschen viel leichter sein müsse, als unter Tieren – immerhin ist kein anderes Lebewesen so intelligent wie der Mensch. Heute weiß er, dass der menschliche Verstand die Sache häufig sogar erschwert. Somit sei Integration unter Menschen zwar möglich, nehme aber viel Zeit in Anspruch, sagt Adnan. „Integration ist wie Brot backen – es braucht Zeit“, sagt der junge Mann mit dem rundlichen Gesicht. An diesem warmen Sommertag trägt er ein weißes Leinenhemd und eine schwarze Jeans.

Adnan weiß aus eigener Erfahrung, wie schwierig der Weg nach Deutschland sein kann. Er selbst war fünf Monate mit seinem vier Jahre älteren Bruder auf der Flucht. Fast wären die beiden bei der Überfahrt im Meer ertrunken, in Mazedonien sperrte man sie vorübergehend ins Gefängnis. Wer mit jungen Jahren schon so viel erlebt hat, dem fällt es nicht immer leicht, sich in einer neuen Gesellschaft, einem fremden Land zurechtzufinden – zumindest nicht ganz ohne Starthilfe.

Weil vor allem die Sprachbarriere anfangs ein großes Problem darstellt, hat Adnan sich von der Caritas zum Kulturdolmetscher ausbilden lassen. Er kann mittlerweile sowohl Arabisch als auch Deutsch sprechen und so dabei helfen, sprachliche Barrieren zu überwinden. Adnan unterstützt hierbei auch die studentische Initiative „Ahlan wa Sahlan – Studenten helfen Flüchtlingen“ der Ludwig-Maximilians-Universität. Zu seinen Aufgaben gehört es, Flüchtlinge bei Behördengängen und Arztterminen zu begleiten, vor allem aber die interkulturelle Vermittlung. Aktuell betreut er die syrischen Brüder Faris und Nabil (Namen geändert), 18 und 20 Jahre alt, die ihre Eltern im Krieg verloren haben. Adnan hilft ihnen, sich einzuleben, und beantwortet all ihre Fragen: Wie komme ich mit dem Bus in die Stadt? Wo kann ich Fleisch kaufen, das halal ist? Zu welchem Arzt muss ich gehen, wenn ich Zahnschmerzen habe? Wie finde ich einen Ausbildungsplatz? Fragen über Fragen.

Für Adnan ist es ganz selbstverständlich zu helfen. „Wenn ich das nicht mache, wer soll das sonst machen“, sagt er. Trotzdem weiß Adnan, dass er nie für alle Syrer sprechen, sondern immer nur seine Sicht der Dinge erzählen kann. Das müsse aber auch umgekehrt gelten. „Wenn ich einen Fehler mache, dann hat Adnan den Fehler gemacht und nicht alle Syrer“, sagt er bestimmt und runzelt dabei kurz die Stirn. Wenn er auf Deutsch spricht, hört man seinen Akzent, aber Fehler macht er kaum noch.

Als er Ende Januar 2015 nach Deutschland kommt, kann er gerade einmal zwei Sätze auf Deutsch sagen: „Ich komme aus Syrien.“ Und: „ Ich bin neu hier.“ Fürs Erste bleibt es jedoch dabei, denn kaum in München angekommen, werden er und sein Bruder nach Deggendorf gebracht. Dort leben sie in einem Haus voller Flüchtlinge ohne Kontakt zur Außenwelt. Niemand, der sich Zeit nimmt, mit ihnen über das Erlebte zu sprechen oder ihnen etwas über Deutschland und die Deutschen zu erzählen. An Integration ist nicht zu denken.

Als er im Mai desselben Jahres zurück nach München kommt und kurz darauf seinen Asylbescheid erhält, beginnt für ihn endlich ein neues Leben. Sein Leben in Deutschland. Adnan macht einen Intensiv-Sprachkurs, findet ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft und sogar einen Arbeitsplatz als Laborassistent. Das Wichtigste aber ist für ihn der soziale Kontakt. „Es gibt Dinge, die kann man nicht im Sprachkurs lernen, sondern nur im Austausch mit anderen Menschen“, sagt Adnan. Denn Dinge, die in der Heimat üblich sind, sind es hier nicht unbedingt. Das bedeute nicht, dass das Eine richtig oder falsch sei, sagt er, aber trotzdem sei es wichtig, die andere Kultur verstehen zu lernen. „Korruption ist in Syrien normal, in Deutschland nicht“, sagt er und lacht bei diesem Beispiel. Er hat gelernt, die Dinge mit Humor zu nehmen.

In Damaskus hat Adnan bereits zwei Jahre Medizin studiert, als er fliehen muss. Er hat gute Noten, ist ein fleißiger Student. Trotzdem müssen einige der Flüchtlingshelfer erst lernen, Neuankömmlinge wie ihn nicht wie ein Kind zu behandeln. Nur so sei ein Kontakt auf Augenhöhe möglich. „Nur weil jemand kein Deutsch spricht, heißt das nicht, dass er dumm ist“, sagt Adnan. Das versucht er auch bei seinen Vorträgen immer wieder deutlich zu machen. Kürzlich wurde er von einer Münchner Stiftung eingeladen, um im Dialogforum über das Thema Flüchtlingshilfe zu sprechen. An der Münchner Volkshochschule hat er an einer Podiumsdiskussion zum Thema „Der neue Anfang in Deutschland – Flüchtlinge erzählen“ teilgenommen. Und auch in der Dokumentation über Integration „Mit dem falschen Fuß aufgestanden“ kommt Adnan zu Wort. Durch die Vorträge, die er über seine Heimat und seine Kultur hält, möchte er den Menschen klar machen, dass die Unterscheidung zwischen „wir“ und „ihr“ nicht sein muss. „Wir können viel voneinander lernen“, sagt Adnan. Und er meint, was er sagt: Einmal haben er und seine syrischen Arbeitskollegen im Labor deshalb für die anderen Mitarbeiter ein Essen zubereitet, um ihnen die Küche ihrer Heimat näher zu bringen. Lernen mit allen Sinnen.

Adnan selbst fühlt sich nach mehr als zwei Jahren in Deutschland angekommen. Für ihn bedeutet das, sich sicher zu fühlen in dem Land, von dem ihm schon sein Großvater, der lange vor dem Krieg in Deutschland Medizin studiert hat, so viel erzählt hat. Aber er weiß auch, dass er Glück gehabt hat. Er ist gemeinsam mit einem seiner Brüder gekommen, auch sein 17-jähriger Bruder ist mittlerweile in Deutschland und hat nun die Möglichkeit, die Mutter, die alleine zurückgeblieben ist, nachzuholen. Adnan hat viele Freunde, seine Arbeit als Laborassistent und als Kulturdolmetscher, seit kurzem sogar eine feste Freundin, mit der er zusammenziehen möchte, und vom kommenden Wintersemester an – wenn alles nach Plan läuft – sogar einen Studienplatz für Medizin an der LMU.

Adnan ist das, was manche Menschen wohl einen Vorzeige-Flüchtling nennen würden. Es sind dieselben Menschen, die nicht verstehen, was denn so schwer daran sein soll, sich zu integrieren.

Adnan mag vergleichsweise Glück gehabt haben – aber was heißt schon Glück, wenn man vor dem Krieg flieht? Viele andere haben weitaus mehr Schwierigkeiten als Adnan. Ein befreundeter Syrer sei mit seinem vierjährigen Sohn nach Deutschland gekommen, der schwer krank ist, sagt Adnan. Statt seinen Deutschkurs zu besuchen, hetzt er von Krankenhaus zu Krankenhaus. Wie solle so jemand in Deutschland ankommen können? „Sie sind immer noch auf der Flucht“, sagt Adnan ernst. Erst, wenn sich jemand sicher fühle, könne er sich integrieren. Das braucht Zeit.

Text: Jacqueline Lang

Foto: Robet Haas

Versöhnung mit der Vergangenheit

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Dhan Krishna wuchs als Waisenkind in Nepal auf, heute lebt er als Dhan Schroeter mit seiner Adoptivfamilie in München. Er arbeitet als Erzieher und Dolmetscher – und unterstützt Hilfsprojekte in seiner ursprünglichen Heimat. Das Datum, an dem sein zweites Leben begann, hat er sich auf den Arm tätowieren lassen.

Dhan Schroeter steht an einer Ecke des Marienplatzes, ein wenig abseits vom Gedränge. Er trägt ein blaues Hemd, darüber ein Sakko. An seinem Handgelenk zeigt eine auffällige Uhr von Giorgio Armani wenige Minuten vor drei. Die Kleidung und sein Bart lassen ihn älter wirken als 22 Jahre. Er lege Wert auf Mode, wird er später sagen. Gerade kommt er von einem Termin im Amtsgericht. Er arbeitet als Dolmetscher, Nepali-Deutsch, damit verdient er sein Geld. Und das nicht schlecht, wie es scheint. Was man nicht erwartet: In Nepal, seinem Geburtsland, zählte er als Kind zu den Ärmsten der Armen. Damals hieß er noch Dhan Krishna.

„Die Gegend, in der ich geboren wurde“, erzählt er, „ist eine der unterentwickeltsten der Welt.“ Als er drei war, starb sein Vater, ein Jahr später seine Mutter. Dhans Onkel nahm ihn gegen den Willen der Tante auf. Jeden Tag half er dort mit, hütete beispielsweise Kühe – mit gerade fünf Jahren. Strom und fließendes Wasser gab es nicht. Geduldet, viel mehr war der Junge seinen Erzählungen zufolge in der Familie nicht. Seine eifersüchtigen Cousins zerschnitten ihm die Kleidung, im Dorf und zu Hause, musste er mit dem Vorwurf umgehen, ein tokua zu sein: schuld am Tod seiner Eltern. „So ist das im Hinduismus“, sagt er und meint damit den Aberglauben, dass junge Waisen wie er verantwortlich für Todesfälle seien.

Mit acht Jahren kam er in ein Waisenhaus in Kathmandu. Bis zu dreißig Kinder schliefen in einem Saal, zwei in einem Bett. Wo andere Kinder am liebsten wieder verschwunden wären, fühlte Dhan sich „wie im Himmel“. Er durfte in die Schule, lernte lesen und schreiben. Fleißig sein, sich anpassen, das hatte er schon im Dorf seiner Tante gelernt. Und damit kam er nun in Kathmandu auch sehr gut durch. Bald wurde er in ein Stipendiatenprogramm aufgenommen, kam auf eine renommierte Privatschule und lernte dort sogar Englisch.

2003 fängt sein zweites Leben an. Genauer: sein Leben in Deutschland seit dem 10.09.2003. Er krempelt den Ärmel des Hemdes hoch und ansatzweise erkennt man das Datum als Tätowierung. Schon vorher hatte eine Münchnerin, Roswitha Schroeter, ein nepalesisches Mädchen aus seinem Heim adoptiert. Drei Monate musste die Deutsche dort warten, bis sie es mit sich nehmen durfte. In diesen drei Monaten lernte sie auch Dhan kennen, auf Englisch erklärte er ihr das Leben im Heim. Wenn sie nicht da war, passte er auf das Mädchen auf, bis es nach Deutschland kam. Dhan blieb in Kathmandu – dann wurde auch er nachgeholt.

Heute ist dieses Mädchen für ihn seine Schwester, Roswitha Schroeter seine Mutter. Er fühlt sich als Deutscher, Nepal ist inzwischen nur mehr die zweite Heimat. Dennoch fährt er jedes Jahr dorthin. Seine Mutter hat eine Hilfsorganisation gegründet, er übernimmt die Übersetzungsarbeiten dafür. Er ist dabei, wenn neue Waisenhäuser eröffnet werden, beschäftigt sich mit den Kindern, zeigt ihnen Tricks, gibt weiter, was er selbst gelernt hat – Spiele zum Beispiel, die er im Heim oft gespielt hat. „Das tut mir gut und den Kindern auch.“

Kinder, sie sind ein besonderes Thema für Dhan Schroeter. Er wirkt zwar sehr ernst, wenn er von seiner Kindheit erzählt. Aber sobald er über sein Verhältnis zu Kindern spricht, blüht er auf. Dann lächelt er. Diese Freude begleitet ihn auch in seinem Beruf, denn neben der Arbeit als Dolmetscher macht er gerade eine Ausbildung zum Erzieher.

Zu Beginn in Deutschland hatte er schnell erste Erfolge, lernte die Sprache rasch, kam von der Hauptschule auf das Gymnasium, bekam das Stipendium „Talent in Bayern“. Doch die Schule ließ er nach der Mittleren Reife hinter sich, wollte lieber etwas Soziales machen. Sein erstes Praktikum machte er in einem Waisenhaus – das war sein Wunsch.

Auch hier gilt wie in Kathmandu: Er will den Kindern etwas geben. Viele seien verwöhnt von den vielen Spielzeugen, der Dauerbeschäftigung – an Kreativität seien die nepalesischen Kinder oft reicher. Er weiß aus eigener Erfahrung, „in Situationen, in denen man nichts hat, macht man oft das meiste daraus.“

Dhan Schroeter verbindet viele Gegensätze in sich. Die ärmliche Herkunft und die protzige Uhr an seinem Arm. Der Job als Dolmetscher – aber gleichzeitig ist er Erzieher in der Ausbildung. „Ich bin schon irgendwie anders als viele meiner Freunde. Ich kenne beide Kulturen und beide Mentalitäten und habe manche andere Interessen.“ In seiner Heimat hat man ihm gesagt, dass er sehr ruhig geworden sei, als seine Mutter starb. Und in gewisser Weise ist er das immer noch: „Ich bin jemand, der sehr viel nachdenkt“, sagt er.
Vielleicht mit ein Grund, warum er älter wirkt als 22 – wobei er vielleicht sogar jünger ist, denn sicher ist er sich bei seinem Alter nicht. Zunächst galt ein Zeitraum von fünf Tagen im Jahr 1990 als möglich, zuletzt erfuhr er von seinem Bruder, dass er vermutlich erst 1991 geboren wurde.

Seinen ersten Auftrag als Dolmetscher hatte er vor drei Jahren in einem Rosenheimer Gerichtssaal. Der Richter meinte, er solle das doch beruflich machen – und so kam es auch. Zuerst war er bei diversen Dolmetscherbüros beschäftigt, inzwischen ist er selbständig. Insgesamt gebe es nur zwei weitere Nepali-Dolmetscher in Deutschland, beide im Norden. Das kommt ihm zugute. Er grinst fast wie ein kleiner Junge: „Meine Kunden warten darauf, bis ich einen Termin frei habe, nicht andersherum.“ Das sei schon toll. Um sich sprachlich fit zu halten, liest er nepalesische Literatur. Je nach Auftrag – ob nun im Amtsgericht, im Zollamt, bei Staatsbesuchen oder Hilfsprojekten – hat er die passenden Begriffe parat. Die Arbeit mache ihm total Spaß, erzählt er, aber die Tätigkeit als Erzieher brauche er zum Glücklichsein. So sieht er auch seine Zukunft: halb Dolmetscher, halb Erzieher. Eine Familie mit zwei Kindern, ein eigenes und eines adoptiert, wünscht er sich.

Die jährlichen Reisen nach Nepal unternimmt er nicht nur wegen der Projekte, sondern auch, weil er nach Informationen sucht, über sich und seine Familie. Vor acht Jahren fand er heraus, dass er einen Bruder hat. Vor wenigen Wochen lernte er ihn kennen. Seine Tante sei inzwischen voller Neid, bei seinem Lebenswandel hätte sie lieber einen ihrer Söhne ins Waisenhaus geschickt, soll sie gesagt haben. Dhan scheint stolz auf das zu sein, was er erreicht hat, aber nicht schadenfroh. Es scheint, als habe er sich mit seiner Vergangenheit versöhnt. „Meine Vergangenheit gehört zu mir. Und ich bin nur froh und dankbar, dass alles so gut abgelaufen ist.“

Doro Merkl