Dhan Krishna wuchs als Waisenkind in Nepal auf, heute lebt er als Dhan Schroeter mit seiner Adoptivfamilie in München. Er arbeitet als Erzieher und Dolmetscher – und unterstützt Hilfsprojekte in seiner ursprünglichen Heimat. Das Datum, an dem sein zweites Leben begann, hat er sich auf den Arm tätowieren lassen.
Dhan Schroeter steht an einer Ecke des Marienplatzes, ein wenig abseits vom Gedränge. Er trägt ein blaues Hemd, darüber ein Sakko. An seinem Handgelenk zeigt eine auffällige Uhr von Giorgio Armani wenige Minuten vor drei. Die Kleidung und sein Bart lassen ihn älter wirken als 22 Jahre. Er lege Wert auf Mode, wird er später sagen. Gerade kommt er von einem Termin im Amtsgericht. Er arbeitet als Dolmetscher, Nepali-Deutsch, damit verdient er sein Geld. Und das nicht schlecht, wie es scheint. Was man nicht erwartet: In Nepal, seinem Geburtsland, zählte er als Kind zu den Ärmsten der Armen. Damals hieß er noch Dhan Krishna.
„Die Gegend, in der ich geboren wurde“, erzählt er, „ist eine der unterentwickeltsten der Welt.“ Als er drei war, starb sein Vater, ein Jahr später seine Mutter. Dhans Onkel nahm ihn gegen den Willen der Tante auf. Jeden Tag half er dort mit, hütete beispielsweise Kühe – mit gerade fünf Jahren. Strom und fließendes Wasser gab es nicht. Geduldet, viel mehr war der Junge seinen Erzählungen zufolge in der Familie nicht. Seine eifersüchtigen Cousins zerschnitten ihm die Kleidung, im Dorf und zu Hause, musste er mit dem Vorwurf umgehen, ein tokua zu sein: schuld am Tod seiner Eltern. „So ist das im Hinduismus“, sagt er und meint damit den Aberglauben, dass junge Waisen wie er verantwortlich für Todesfälle seien.
Mit acht Jahren kam er in ein Waisenhaus in Kathmandu. Bis zu dreißig Kinder schliefen in einem Saal, zwei in einem Bett. Wo andere Kinder am liebsten wieder verschwunden wären, fühlte Dhan sich „wie im Himmel“. Er durfte in die Schule, lernte lesen und schreiben. Fleißig sein, sich anpassen, das hatte er schon im Dorf seiner Tante gelernt. Und damit kam er nun in Kathmandu auch sehr gut durch. Bald wurde er in ein Stipendiatenprogramm aufgenommen, kam auf eine renommierte Privatschule und lernte dort sogar Englisch.
2003 fängt sein zweites Leben an. Genauer: sein Leben in Deutschland seit dem 10.09.2003. Er krempelt den Ärmel des Hemdes hoch und ansatzweise erkennt man das Datum als Tätowierung. Schon vorher hatte eine Münchnerin, Roswitha Schroeter, ein nepalesisches Mädchen aus seinem Heim adoptiert. Drei Monate musste die Deutsche dort warten, bis sie es mit sich nehmen durfte. In diesen drei Monaten lernte sie auch Dhan kennen, auf Englisch erklärte er ihr das Leben im Heim. Wenn sie nicht da war, passte er auf das Mädchen auf, bis es nach Deutschland kam. Dhan blieb in Kathmandu – dann wurde auch er nachgeholt.
Heute ist dieses Mädchen für ihn seine Schwester, Roswitha Schroeter seine Mutter. Er fühlt sich als Deutscher, Nepal ist inzwischen nur mehr die zweite Heimat. Dennoch fährt er jedes Jahr dorthin. Seine Mutter hat eine Hilfsorganisation gegründet, er übernimmt die Übersetzungsarbeiten dafür. Er ist dabei, wenn neue Waisenhäuser eröffnet werden, beschäftigt sich mit den Kindern, zeigt ihnen Tricks, gibt weiter, was er selbst gelernt hat – Spiele zum Beispiel, die er im Heim oft gespielt hat. „Das tut mir gut und den Kindern auch.“
Kinder, sie sind ein besonderes Thema für Dhan Schroeter. Er wirkt zwar sehr ernst, wenn er von seiner Kindheit erzählt. Aber sobald er über sein Verhältnis zu Kindern spricht, blüht er auf. Dann lächelt er. Diese Freude begleitet ihn auch in seinem Beruf, denn neben der Arbeit als Dolmetscher macht er gerade eine Ausbildung zum Erzieher.
Zu Beginn in Deutschland hatte er schnell erste Erfolge, lernte die Sprache rasch, kam von der Hauptschule auf das Gymnasium, bekam das Stipendium „Talent in Bayern“. Doch die Schule ließ er nach der Mittleren Reife hinter sich, wollte lieber etwas Soziales machen. Sein erstes Praktikum machte er in einem Waisenhaus – das war sein Wunsch.
Auch hier gilt wie in Kathmandu: Er will den Kindern etwas geben. Viele seien verwöhnt von den vielen Spielzeugen, der Dauerbeschäftigung – an Kreativität seien die nepalesischen Kinder oft reicher. Er weiß aus eigener Erfahrung, „in Situationen, in denen man nichts hat, macht man oft das meiste daraus.“
Dhan Schroeter verbindet viele Gegensätze in sich. Die ärmliche Herkunft und die protzige Uhr an seinem Arm. Der Job als Dolmetscher – aber gleichzeitig ist er Erzieher in der Ausbildung. „Ich bin schon irgendwie anders als viele meiner Freunde. Ich kenne beide Kulturen und beide Mentalitäten und habe manche andere Interessen.“ In seiner Heimat hat man ihm gesagt, dass er sehr ruhig geworden sei, als seine Mutter starb. Und in gewisser Weise ist er das immer noch: „Ich bin jemand, der sehr viel nachdenkt“, sagt er.
Vielleicht mit ein Grund, warum er älter wirkt als 22 – wobei er vielleicht sogar jünger ist, denn sicher ist er sich bei seinem Alter nicht. Zunächst galt ein Zeitraum von fünf Tagen im Jahr 1990 als möglich, zuletzt erfuhr er von seinem Bruder, dass er vermutlich erst 1991 geboren wurde.
Seinen ersten Auftrag als Dolmetscher hatte er vor drei Jahren in einem Rosenheimer Gerichtssaal. Der Richter meinte, er solle das doch beruflich machen – und so kam es auch. Zuerst war er bei diversen Dolmetscherbüros beschäftigt, inzwischen ist er selbständig. Insgesamt gebe es nur zwei weitere Nepali-Dolmetscher in Deutschland, beide im Norden. Das kommt ihm zugute. Er grinst fast wie ein kleiner Junge: „Meine Kunden warten darauf, bis ich einen Termin frei habe, nicht andersherum.“ Das sei schon toll. Um sich sprachlich fit zu halten, liest er nepalesische Literatur. Je nach Auftrag – ob nun im Amtsgericht, im Zollamt, bei Staatsbesuchen oder Hilfsprojekten – hat er die passenden Begriffe parat. Die Arbeit mache ihm total Spaß, erzählt er, aber die Tätigkeit als Erzieher brauche er zum Glücklichsein. So sieht er auch seine Zukunft: halb Dolmetscher, halb Erzieher. Eine Familie mit zwei Kindern, ein eigenes und eines adoptiert, wünscht er sich.
Die jährlichen Reisen nach Nepal unternimmt er nicht nur wegen der Projekte, sondern auch, weil er nach Informationen sucht, über sich und seine Familie. Vor acht Jahren fand er heraus, dass er einen Bruder hat. Vor wenigen Wochen lernte er ihn kennen. Seine Tante sei inzwischen voller Neid, bei seinem Lebenswandel hätte sie lieber einen ihrer Söhne ins Waisenhaus geschickt, soll sie gesagt haben. Dhan scheint stolz auf das zu sein, was er erreicht hat, aber nicht schadenfroh. Es scheint, als habe er sich mit seiner Vergangenheit versöhnt. „Meine Vergangenheit gehört zu mir. Und ich bin nur froh und dankbar, dass alles so gut abgelaufen ist.“
Doro Merkl