Der Hörsaal als Paradies

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In den Semesterferien keinen Urlaub zu machen, sondern zu Jobben hat auch sein Gutes: Schließlich weiß Ali ihr Glück jetzt zu schätzen. Nun liest sie wieder Bücher und lernt für das Studium, anstatt in einem Ganzkörperanzug schwitzend und schnaufend das nötige Kleingeld zu verdienen.

Ali weiß jetzt, wie die Hölle aussieht. Das ist gut so, da weiß sie gleich, wo sie für ihre Sünden landen wird. Todsünde Nummer eins: Jähzorn. „Ich hasse jeden, der irgendwo im Urlaub war“, sagt sie, als wir uns am Ende der Semesterferien treffen. Dabei war sie selbst im Warmen: Sie hatte einen Urlaubsjob in der Hölle ergattert. Es sieht dort anders aus, als man es sich allgemein vorstellt. Keine Spur von Schwefel, Alis Hölle ist steril. Es ist ein Reinraum, in dem sie im Ganzkörperkondom Zwölf-Stunden-Schichten schiebt. Ein Ort, an dem die Zeit nicht vergeht, an dem es nichts zu tun gibt, außer die Anzeigen von Maschinen zu überprüfen. Und wenn sie niest, hängt die Feuchtigkeit noch stundenlang in ihrem Schutzanzug. Nicht mal trocken ist es in ihrer Hölle.

Wenn es an ihr gewesen wäre, hätte sich Ali ihre Ferien auch lieber mit Todsünde Nummer zwei – Trägheit – in der Südsee verbracht: ein Koffer voller Bücher, Cocktails jeden Abend. Und jedes Niesen hätte sich einfach so unter der warmen Tropensonne zu einem Regenbogen zerstäubt. Das muss man sich mal vorstellen. Leider ist Ali knapp bei Kasse. Die Hälfte ihres Bafög-Höchstsatzes geht für die Miete drauf, und ihre Ersparnisse schwinden dahin. Ohne ihre zwei Monate in der Unterwelt wäre es eng geworden im nächsten Semester. Da sieht man ihr Todsünde Nummer drei fast nach: Neid. Während ihrer Nachtschichten im Reinraum haben sich Alis Freundinnen in der Sonne von Malaysia, Mexiko oder Bali geaalt. Ali grummelt schon wieder etwas Unfreundliches, diesmal über Menschen, deren Studium von den Eltern finanziert wird. Dass sie sich überhaupt mit mir getroffen hat, liegt wohl daran, dass mein Geld trotz zweier Nebenjobs nur für die Nachsaison an der polnischen Ostsee gereicht hat.

Ein Gutes hat so ein Abstecher in der Hölle aber doch. Ali hat eine ziemlich sichere Ahnung, wie sich der Himmel anfühlen muss: Etwa so, wie wenn man nach zwei Monaten im Reinraum plötzlich an der Donau in der Sonne sitzt und sich mit einem Freund eine Riesenpizza teilt. Und das Studium? Das kommt ihr jetzt fast vor wie ein Trip in die Südsee: tagsüber Bücher und abends Cocktails… na ja, Cocktails vielleicht nicht an jedem Abend. Susanne Krause

Jugend: Das bedeutet Nestflucht. Raus aus der elterlichen Einbauküche, rein ins Leben. Nur dauert es dann nicht lange, bis man sich einen Pürierstab zum Geburtstag wünscht – oder Sehnsucht nach Mamas Gulasch hat. Eine Kolumne über das Zuhause, was auch immer das sein mag. „Bei Krause zu Hause“ erscheint im Wechsel mit der Kolumne „Beziehungsweise“.

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Geboren in der östlichsten Stadt Deutschlands, aufgewachsen in der oberbayrischen Provinz: Susanne Krause musste sich schon früh damit auseinandersetzen, wo eigentlich ihre Heimat ist – etwa wenn die bayrischen Kinder wissen wollten, was sie für eine Sprache spreche und wo „dieses Hochdeutschland“ sei.