Die vergessene Insel

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Die Münchner Jura-Studentin Victoria Lehmann hat auf der griechischen Insel Chios Flüchtlinge beraten.
Es gab Erlebnisse, die sie auch hier in Deutschland nicht loslassen. Ein Gespräch.

Victoria Lehmann macht im Frühjahr ihr erstes Staatsexamen und sie gibt Rechtsinformationen für Flüchtlinge. In Griechenland. Zusammen mit ihren Freundinnen Mahja Afrosheh und Nessrin Scheppach verbrachte sie eine Woche auf Chios, einer kleinen, griechischen Insel etwa 15 Kilometer vor der Türkei.

SZ: Es ist schon ganz schön mutig, einfach nach Griechenland in ein Flüchtlingscamp zu gehen.
Victoria Lehmann: Was heißt mutig? Wir waren ja im Team unterwegs und haben auch gemeinsam in einer Unterkunft geschlafen, also waren wir nie alleine. Außerdem sind dort viele ehrenamtliche Helfer unterwegs, wir waren in ein größeres Netzwerk von Hilfsorganisationen eingebunden. Ich hatte also nie Angst.

Was hat dich bewogen, das zu machen?

Während des Studiums hat man sehr viel mehr Zeit als später im Job. Ich arbeite schon nebenbei in einer Kanzlei für Asylrecht und möchte später auch in diese Richtung gehen. Außerdem: Wenn man schon das Wissen für diese Rechtsinformationen hat, wäre es schade, damit nicht zu helfen, wenn es so dringend nötig ist.

Wie bist du zu dem Projekt gekommen?
Ich bin seit Jahren bei Amnesty International in der Hochschulgruppe und auch bei anderen NGOs aktiv und so zum Thema Asyl und Flüchtlinge gekommen.

Wie habt ihr vor Ort gearbeitet?
Beim Frühstück gab es die erste Teambesprechung, also: Wer macht was? Dann ging es in das Camp. Wir haben den Flüchtlingen erklärt, was rechtlich beim Asylverfahren auf sie zu kommt und welche Fragen gestellt werden könnten. Abends haben wir dann noch eine Art Homeoffice gemacht, also Anträge bearbeitet und Daten hochgeladen. Auch jetzt noch, also zurück in Deutschland, versuchen wir ein bisschen nachzuarbeiten. Denn der Bedarf vor Ort ist nach wie vor sehr groß, Chios ist ein bisschen die vergessene Insel.

Die vergessene Insel?
Ja, die mediale Aufmerksamkeit liegt eher auf Lesbos. Die Lage in Chios ist nicht so bekannt, keine Vertreter der EU oder der UN waren hier. Es gab auch keine Rechtsinformationen dort. Darunter haben die Menschen besonders gelitten.

Inwiefern?
Man merkt sehr schnell, dass es nicht nur die Bedingungen der Unterbringung sind, die die Menschen belasten. Das Wissen, dass sie hier so schnell nicht wieder weg können und dass kaum Informationen durchkommen, ist allgegenwärtig. Sie erdrückt einen beinahe.

Was genau konntet ihr vor Ort tun?
Seit dem Abkommen mit der Türkei gilt ja, dass nur noch für vulnerable Gruppen die Türkei kein sicherer Drittstaat ist, also wenn man beispielsweise schwanger ist oder minderjährig. Wir haben die Flüchtlinge auf die Interviews und die Fragen dazu vorbereitet.

Wie sind die Bedingungen im Camp allgemein?
Eines der Hauptprobleme ist die fehlende Privatsphäre. Familien stellen ihre Schuhe zur Abgrenzung nebeneinander auf, um sich zumindest eine Art Rückzugsraum zu schaffen. Außerdem haben die Plastikzelte keine Fenster und erhitzen sich sehr schnell. Die sanitären Anlagen sind katastrophal. Es herrscht einfach ein unglaubliches Gefühl der Verzweiflung. Man kann sich nicht vorstellen, dass das Europa ist und dass auf der gleichen Insel Touristen ihren Urlaub genießen.

Welche Erlebnisse lassen dich auch hier in Deutschland nicht los?
Puh, es gab so viele. Aber einmal demonstrierten zum Beispiel die Einwohner Chios am Eingang des Camps. Etwa 200 Leute versammelten sich und zündeten unter anderem Bengalos. Als die Demonstration begann, war ich noch im Camp. Um mich herum zuckten die Kinder zusammen und versteckten sich. Sie kannten die Geräusche noch aus Syrien und konnten erst einmal nicht unterscheiden, dass das nur eine Demonstration war. Da wird einem bewusst, wir können die Lücke im System nicht füllen, ein Gefühl der Ohnmacht.

Möchtest du gerne noch einmal nach Griechenland?
Jetzt mache ich erst mal Examen im Frühjahr, davor wird es knapp. Wir hatten natürlich mit dem Gedanken gespielt, aber das macht im Moment zeitlich keinen Sinn.

Interview: Pia Teresa Weber

Foto: Mahja Afrosheh