Vor ihrer ersten Prüfung in Oxford muss sich unsere Autorin mit außergewöhnlichen Prüfungsritualen vertraut machen – und die reichen von Blumen am Revers bis hin zu Konfettiregen.
Mit zitternden Händen schneide ich den Kopf der weißen Nelke ab. Seit vier Tagen steht sie in einer Vase auf meinem Nachttisch zusammen mit einer rosaroten und einer roten Nelke. Nach wochenlangem fiebrigem Lernen ist es so weit: Der Morgen meiner ersten Prüfung ist da. Eine weitere, merkwürdige Tradition in Oxford ist es, „carnations“ zu tragen. Nelken, die wie ein Hochzeitsanstecker an das Revers des Talars geheftet werden. Für die erste Prüfung eine weiße Nelke, für die letzte eine rote und für alle dazwischen eine rosarote. Die drei Farben sollen das Herzblut des Akademikers symbolisieren, das während der Prüfungen vergossen wird, in Form all des Wissens, das er zu Papier bringen soll.
Nachdem ich mich schon lange leer und ausgeblutet wie ein Zombie fühle, ist eine solche Tradition vielleicht genau das Richtige für einen abergläubischen Menschen wie mich. Man darf sich die carnations nicht selbst besorgen, das bringt Unglück. Da mein Freundeskreis sich die Nelken gegenseitig gekauft hat, bin ich eigentlich bestens gewappnet für alle Eventualitäten. Dennoch: Ich habe kaum geschlafen, noch nie war ich so nervös vor einer Prüfung. Nicht einmal vor dem Abitur. Tapfer bin ich aufgestanden, habe ein wenig Frühstück heruntergewürgt und mich in mein „academical dress“ geworfen. Der erste Kreis meiner Oxford-Laufbahn schließt sich. Der erste Anlass, zu dem ich den schwarzen Rock, das weiße Hemd, das schwarze Kragenband, den Talar und das Barrett getragen habe, war die Immatrikulationszeremonie vor sechs Monaten. Jetzt, zu Beginn meines letzten Trimesters in Oxford und in Form der Prüfungen, steht der nächste Anlass vor der Tür, an dem erwartet wird, dass wir dieses Outfit tragen.
Die majestätische Eingangshalle der Examination School, in der alle offiziellen Prüfungen abgehalten werden, ist voller Studenten, die weiße Nelken tragen, noch einmal einen letzten Blick auf ihre Notizen werfen und sich gegenseitig Mut zusprechen. Schließlich verkündet eine durch einen Lautsprecher verstärkte Stimme die Räume für die jeweiligen Prüfungen und verbietet die Mitnahme jeglicher nicht zugelassener Gegenstände. Wie Schafe werden wir in einen noch majestätischeren Saal gelotst, in dem wir einige Minuten später drei Aufsätze in drei Stunden zu Papier bluten, während die „vigitilators“ darauf achten, dass jeweils nur eine Person auf die Toilette geht und jeder die richtige Nummer auf seine Fragebögen schreibt.
Performance und symbolischer Akt, das ist Prüfung-Schreiben in Oxford. Ich denke an die Prüfungen, die ich während meines Bachelors in München abgelegt habe. Auch dort war ich aufgeregt, habe mir sorgfältig überlegt, was ich tragen würde, während meine Professoren ebenso darauf bedacht waren, dass alles mit rechten Dingen zuging. Trotzdem denke ich, dass niemand in München sich vorstellen könnte, was für eine Zeremonie aus Prüfungen gemacht werden kann. Nicht einmal in Cambridge wird ein vergleichbarer Aufwand betrieben. Als jedoch im vergangenen Jahr ein Referendum unter den Studierenden in Oxford abgehalten wurde, sprach sich die Mehrheit für eine Fortführung des academical dresses aus.
Am dritten Tag, nach der letzten Prüfung, trete ich mit meiner roten Nelke durch den Hintereingang der Examination School und in die wartenden Arme einer Menge aus Freunden und Unbekannten, bereit mich zu „trashen“: noch so eine Tradition, bei der die mit den Prüfungen fertigen Studenten mit Konfetti und Alkohol, Rasierschaum, Farbe und Gummischlangen überhäuft werden, was je nach Anzahl der Geprüften schon einmal die Ausmaße eines größeren Musikfestivals inklusive Pogo annehmen kann. Jenseits von jeglicher derzeitiger Angst, nicht bestanden zu haben, denke ich mir, dass diese drei Tage meines Lebens mit einiger Sicherheit irgendwann einmal eine gute Geschichte abgeben werden.
Text: Theresa Parstorfer
Foto: Privat