Bewusstlos in Budapest

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Budapest – lebendig und kulturell interessant. Blöd nur, dass das Leo, der in eben dieser Stadt studiert, nicht mitbekommt. Schuld daran ist die Sprachbarriere und seine nicht verschwinden wollende Sehnsucht nach Paraguay. Die Geschichte eines Heimkehrers.

Manches ist so offensichtlich, dass man es schon mal vergisst. Leo zum Beispiel hat vergessen, dass er während seines Medizinstudiums lebt. Das ist paradox: Eigentlich sollte man meinen, so ein Medizinstudium wäre ein prima Anlass, um sich Klarheit über die eigenen Vitalfunktionen zu verschaffen. Aber Pustekuchen.

Alles beginnt vor zwei Jahren: Leo beendet sein soziales Jahr in Paraguay und steigt in ein Flugzeug nach Hause. Aber kaum hat er deutschen Boden berührt, will er eigentlich zurück nach Südamerika. Nur widerwillig sieht Leo ein, dass er den Straßenkindern von Asunción mit einem Doktor in Medizin besser helfen kann als mit einem Abitur im vorderen Mittelfeld. In Deutschland hat er mit seinem Abi-Schnitt wenig Chancen, also er schreibt sich an der deutschen Universität in Budapest ein. Da ist er nun: ein kontaktfreudiger, kulturbegeisterter Student in einer lebendigen, kulturell interessanten Stadt. Eigentlich eine ideale Kombi. Wenn man denn die Sprache spräche.

Aber Ungarisch spricht Leo bis heute nicht; es ist schwierig zu lernen. Statt ein Teil des lebendigen, kulturell interessanten Budapests zu werden, wohnt er in einer deutschen Enklave: Medizinstudium an der deutschen Uni, eine WG mit deutschen Medizinstudenten als Mitbewohner. Mit der Zeit wird die Enklave noch kleiner: Er verkriecht sich in seinem Zimmer. Wie gesagt: Dass Leo während dieser zwölf Semester in Budapest lebendig und bei vollem Bewusstsein sein würde, war ihm nicht klar. Seine Zeitrechnung sollte erst weiterlaufen, wenn er als Kinderarzt in Paraguay aus dem Flugzeug steigt. Leider hat die Zeit seine Zeitrechnung nicht mitgemacht. Sie läuft einfach weiter. Vorspulen ist nicht.

Jetzt ist er wieder da. Budapest ist passé, das Medizinstudium liegt auf Eis, vielleicht wird es immer dort bleiben. Und während es so dort herumliegt, spazieren wir über den Schwabinger Friedhof. Leo wohnt wieder in seinem alten Kinderzimmer und er raucht noch immer, ganz so, als wäre ein Medizinstudium kein prima Anlass, um aufzuhören. Und wie es jetzt weitergeht, das weiß er noch nicht genau. Die Zeit zeigt sich weiter von ihrer unkooperativen Seite: Gerade arbeitet sie daran, dass seine Erinnerungen an Südamerika an Farbe verlieren. Susanne Krause

Jugend: Das bedeutet Nestflucht. Raus aus der elterlichen Einbauküche, rein ins Leben. Nur dauert es dann nicht lange, bis man sich einen Pürierstab zum Geburtstag wünscht – oder Sehnsucht nach Mamas Gulasch hat. Eine Kolumne über das Zuhause, was auch immer das sein mag. „Bei Krause zu Hause“ erscheint im Wechsel mit der Kolumne „Beziehungsweise“.

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Geboren in der östlichsten Stadt Deutschlands, aufgewachsen in der oberbayrischen Provinz: Susanne Krause musste sich schon früh damit auseinandersetzen, wo eigentlich ihre Heimat ist – etwa wenn die bayrischen Kinder wissen wollten, was sie für eine Sprache spreche und wo „dieses Hochdeutschland“ sei.