Zufallsstudium: Unter der Erde

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Alt sind nicht nur die Zeiten, um die es in dieser Vorlesung gehen soll. Mitten unter Senioren mit weißen Haaren und dicken Hornbrillen nimmt unsere Autorin im Hörsaal Platz.

Im Vorübergehen lese ich eine große und plakative
Überschrift an der Wand: Die Alpen. Sofort tauchen vor meinem inneren Auge
Gebirgsketten auf. Sie sind gehüllt in Puderzuckerschnee. Playmobilgroße
Hütten, Fackeln beim Nachtrodeln und der Geschmack von Bombardino. Doch das
hier ist die Universität, hier heißt es: ungemütliche Stühle, künstliche LEDs
und Matsche-Pampe aus der Mensa. Ich trete in den Hörsaal ein und frage mich zu
welcher Disziplin das Themenfeld gehören könnte. Vielleicht geht es hier um die
vormenschliche Zeit, als sich bestimmte Erdplatten aufeinander schoben und
Berge entstehen ließen. Vielleicht aber auch um biologische Entwicklungen und
welche Pflanzenarten nur dort zu finden sind. Die Antwort kommt auch schon eine
Minute später als die Powerpoint-Folie umschwenkt und der Name des Instituts zu
lesen ist: Vor- und frühgeschichtliche Archäologie und Provinzialrömische
Archäologie. Okay, klingt wahrscheinlich komplizierter als es eigentlich ist.
Ich schnappe das Wort Siedlungsräume auf und Daten wie das 4. und 6.
Jahrhundert nach Christus, danach versinkt der Dozent auch schon in
Wiederholungen der letzten Stunde und ich habe Zeit mich umzuschauen.

 Erst jetzt fällt mir auf, dass über die Hälfte der Zuhörer
graue Haare und dicke Brillen haben – ich bin wohl in ein sehr beliebtes Fach
des Seniorenstudiums gerutscht. Doch wieso interessiert sich diese Generation
so sehr für Archäologie? Ausgrabungen und längst vergangene Siedlungen wenn man
selbst nur noch einige Jahre hat, bevor man unter die Erde wandert? Grotesk.

Ein Mann, ebenfalls ergraut und mit großer Pilotenbrille aus
den achtziger Jahren, reißt mich aus meinen Gedanken, als er zur Tür hereinkommt.
Im Alter wird man vielleicht weiser, aber nicht unbedingt pünktlich.

An der Wand erscheinen Luftbilder von Ausgrabungen und
Umrisse von Kirchen und Grabstätten. Das Institut war in den siebziger Jahren
an einer der Ausgrabungen in Oberitalien beteiligt. Ob der Dozent, ebenfalls
ergraut, persönlich dabei war, erfahre ich leider nicht. Doch jetzt wird es
spannend. Es geht um germanische Militärpräsenz und römischen Wohlstand, der
mit den Jahrhunderten immer weniger wurde. Bilder zeigen einen Kirchenumriss,
sogar den Platz des Altars und des Taufbeckens konnte man ausfindig machen. Es
gab dabei wohl einige Schwierigkeiten wegen des Mörtels und der Bindemittel,
aber ich verstehe nicht viel davon und frage mich kurzzeitig, ob
Archäologie-Studenten nebenbei eine Ausbildung zum Maurer absolvieren müssen. In
einem Siedlungsraum wurden außerdem Mosaike gefunden, die den zuvor genannten
Wohlstand zeigen. Sie sind einige Quadratmeter groß, kaum zerbrochen und
erinnern mich stark an Instagram-Bilder aus Marokko. Wie sie unter einer Erd-
und Grasschicht verschwinden konnten, bleibt mir ein Rätsel. Und überhaupt – wieso
verschwinden ganze Kirchen und ihre Friedhöfe unter der Erde?

Bevor allerdings weitere Fragen aufkommen, verkündet der
Dozent eine dreiminütige Pause. Mitten in der Vorlesung. Die Archäologen haben
wohl Zeit. Verständlich – denn was unter der Erde liegt, bleibt dort auch erst
einmal.

Text: Sandra Will

Foto: Lukas Haas