Zufallsstudium: Das Gute und das Böse

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Sein Gang ist sehr wippend, sehr schnell. Doch statt in eine Vorlesung geht der junge Mann auf die Toilette. Eine Ewigkeit später:
Sein charakteristischer Gang ist jetzt ein erleichtertes Schlurfen. Er schlurft ins Audimax – und der Autor dieser Zufallsstudium-Kolumne hinterher. Was er dort erlebte, verblüffte ihn.

Von Matthias Kirsch

Ich stehe auf und verlasse
den Saal. Ich denke nach. Allein der Fakt, dass mich dieser Vortrag
nachdenklich gemacht hat, freut mich. Ich dachte, ich lande in einer
Jura-Vorlesung. Oder einer BWL-Übung. Ich hatte auf ein philosophisches Seminar
gehofft, und habe einen Vortrag gekriegt. Ich wollte eine Frage stellen, aber
ich wurde nicht drangenommen. In manchen Studiengängen ist das auch so. Da
stellt niemand Fragen. Die Lehre ist bei manchen Studiengängen nicht für Fragen
ausgelegt. Oft wissen das die Studenten nicht, wenn sie sich immatrikulieren.
Das ist schade. Und das ist ja auch irgendwie Zufall, in so einem Studium.

Aber der Reihe nach: Ich
bin zu spät – in allen Belangen. Erstens: Ich habe meinem Mitbewohner die Miete
noch nicht überwiesen. Zweitens: Es ist
18.45 Uhr. Ganz schön spät für die Uni. Vor allem, wenn man einem x-beliebigen Studenten in einen Kurs folgen will. Aber Verspätung hat System: Interessante Menschen kommen zu spät zu
einer Vorlesung, weil sie vorher interessante Dinge getan haben. Logisch, oder?
Also kann ich auch 45
Minuten nach dem normalen Beginn einer Veranstaltung noch jemandem in ein
Seminar folgen. Beim Bäcker im Zwischengeschoss entdecke ich eine Bekannte –
ich bleib stehen und sag Hallo. Sie fragt, was ich vorhabe, und ich erzähl es
ihr. Ich frage, was sie vorhat, und sie erzählt: Ich ziehe morgen nach Berlin.
Aber jetzt, jetzt gehe ich erst zu einem Vortrag. Ich finde, am Tag bevor man
nach Berlin zieht, kann man sich ruhig einen Vortrag anhören.

Ich – so überlege
ich es mir vor dem Hauptgebäude der LMU – könnte eigentlich ja auch ihr folgen.
Aber das wäre zu einfach. Ich wünsche ihr viel Spaß und Erfolg, und
sie wünscht mir auch viel Spaß und Erfolg. Ich
setze mich also vor die Uni. Eine Gruppe Hipster kommt vorbei – das langweilt
mich schon. Dann, Hemd-Pulli-schicke-Schuhe, auch darauf habe ich keine Lust.
Aber, schließlich entdecke ich jemanden – am Brunnen vorbei läuft, hüpft fast,
ein mittelgroßer junger Mann. Sein Gang ist sehr wippend, sehr schnell – der
muss Verspätung haben! Aber für welchen Kurs? Meine Fantasie geht schon auf
Reisen – Mathematik, vielleicht? Oder doch Philosophie? Vor lauter Nachdenken
läuft mir der Gute fast weg. Ich spute mich. Im Lichthof verlier ich ihn fast,
aber dann entdecke ich das weiße T-Shirt wieder und hänge mich an ihn. Ich
hoffe nur, er geht nicht ins Audimax. Leider stampft er immer weiter in die
Richtung, jetzt ist er schon auf der Höhe des Eingangs – und läuft vorbei! Ich
freu mich – aber es währt nur kurz. Denn nur einige Meter weiter öffnet mein
wippender Student eine Tür. Und geht aufs Klo.

 Na
gut. Ich warte vor der Toilette, auf dem Gang, wohlgemerkt. Die Zeit vergeht –
ich fange an, mir Sorgen zu machen. Ist er krank? Ins Klo gefallen? Vielleicht
lernt er gerne auf dem Klo? Gerade als ich mich dazu entscheide nachzuschauen,
öffnet sich die Tür und der junge Mann verlässt die Toilette. Er hat
sich verändert. Sein charakteristischer Gang ist jetzt ein erleichtertes Schlurfen.
Seine wachen Augen: auf einmal müde. Alles, was mich auf ersten Blick gefesselt
hat, ist weg! Und, es kommt noch schlimmer: Er geht ins Audimax.

Ich
gebe mich geschlagen. Ich setze mich ein paar Reihen hinter meinen neuen
Freund. Mir geht kurz durch den Kopf, dass er Jim Carrey in meiner eigenen
kleinen Truman-Show ist. Dann frage ich meine Nachbarin, eine kleine, sehr
aufrechtsitzende Person, welche Veranstaltung denn jetzt hier veranstaltet
wird. „Keine Veranstaltung“, piepst sie, „ein Vortrag!“ Ich bin neugierig.
„Tomas Sedlacek – the Economy of Good and Evil!“, erklärt sie weiter. Ich habe
keine Zeit nachzufragen, da betritt schon ein älterer Herr das Podium. Er
redet sehr monoton, und mir wird mulmig. Das muss ich mir jetzt antun? Ich habe
Glück: Dieser alte Mann kündigt nur den Speaker an. Denn Herr
Sedlacek ist zwar ein brillanter Wissenschaftler (one of the brightest young
minds in economics, hatte der langweilige alte Mann verkündet, nicht ganz ohne
Stolz), sieht aber nicht so aus. Groß, muskulös gebaut, kurze blonde Locken,
blonder Vollbart. Sakko, hellblaues Hemd, dunkle Leinenhose, Brogues. Und
Sedlacek ist ein guter Redner. Mit lauter Stimme beginnt er seinen Vortrag, er baut
einige Witze ein, das Publikum hängt ihm an den Lippen.

Ich nicht. Ich muss ja
objektiv bleiben. Aber, ich muss zugeben, ich bin ganz froh, hier gelandet zu
sein.
Sedlacek ist nicht nur Wirtschaftswissenschaftler, sondern beschäftigt sich
auch mit Methodologie und Theologie und künstlicher Intelligenz.
Sedlacek glaubt
nicht, dass die Wirtschaft und ihre Lehre frei von Ideologie sind – er
beschuldigt sogar die führenden Wissenschaftler, den Lehrenden ihre Ideologie
aufzudrängen. So langsam merken die meisten im Raum, warum Tomas’ Buch,
treffend natürlich „The Economy of Good and Evil“ genannt, ein Bestseller
wurde. Der Mann kann erzählen. Und
so erzählt er weiter. Er resümiert das Christentum in sieben Sekunden. Er sagt:
„God has to kill himself in order not to kill people“. Einleuchtend. Er
beschreibt die europäische Schuldenkrise nicht als wirtschaftliches, sondern
als ideologisches Problem. Und, schlussendlich, um seinen anfänglichen Punkt zu
unterstreichen, dass nichts frei von Ideologie sein kann, erläutert er: Sogar
im biblischen Paradies, an einem Ort, an dem alles wunderbar ist, ist der
einzige Mensch nicht frei von einer Emotion. Bevor der erste Mensch auch nur
irgendein Wort geredet, einen Schritt gemacht hat, fühlt er sich schon –
alleine. 

Ich stehe auf und verlasse den Saal. Ich denke
nach.

Mein München – Audimax TU München

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Müdigkeit, Aufmerksamkeit – und Durst! Jean-Marc Turmes, 24, möchte die Realität durch seine Fotos neu interpretieren. In diesem Falle das Audimax der TU. Hier trifft die Gleichmäßigkeit der horizonalen Linien, auf die ungleichmäßigen Sitzpositionen der Studenten.

„Mich reizt der Aspekt einer Fotoreportage, aber immer mit künstlerischem Anspruch“, sagt Fotograf Jean-Marc Turmes. Deshalb sind seine Fotos nie eine Abbildung der Realität, sondern seine Interpretation davon. „Ich will reale Momente festhalten, die durch mein Foto noch etwas hinzugewinnen – eine Art magische Aura.“

Genau das ist dem 24-Jährigen im Audimax der TU München gelungen. Bei einer Studentenveranstaltung wollte Jean-Marc eine allgemeine Perspektive haben, um die Geschichte der Diskussion besser erzählen zu können. Von oben auf dem Balkon schoss er das Foto mit einem Teleobjektiv.
„Mir gefiel gleich die Gleichmäßigkeit der horizontalen Linien in Kombination mit der Ungleichmäßigkeit der Menschen und Wasserbecher“, beschreibt es der gebürtige Luxemburger. Trotz der Vogelperspektive zeigt das Foto die Gefühlslage der Menschen. An Haltung und Sitzposition erkennt man Müdigkeit, Aufmerksamkeit – und Durst.

Jean-Marc hat sich der Porträtfotografie verschrieben. So kam er vor vielen Jahren überhaupt erst zum Fotografieren: „Als ich ungefähr acht Jahre alt war, hatte ich eine kleine, pinke Kamera – natürlich analog und ohne Zoom. Auf Schulausflügen, wenn andere die Umwelt fotografierten, schoss ich Fotos von den Menschen.“ So begann Jean-Marc, die Realität durch Fotos neu zu interpretieren. Im Idealfall, so hofft er, ist diese Interpretation dann künstlerisch.

Von Matthias Kirsch