Etliche winzig kleine Striche setzt Patrick Siegl, 23, mit einem Fineliner auf ein Blatt Papier. Er ist Autist. Die Kulturen, die er zeichnet, hat er fast alle noch nicht erlebt. Seine Inspirationen holt er sich aus Computerspielen.
Unzählige Stockwerke sind zu erkennen. „Das sind asiatische Tempeldächer in unterschiedlichen Breiten, die nebeneinander verschachtelt sind und immer höher werden“, sagt Patrick Siegl. Etliche winzig kleine Striche setzt er mit einem Fineliner auf ein Blatt Papier, neben- und untereinander. Aus der Ferne sehen sie aus wie eine graue Fläche. Aus der Nähe erkennt man darin Türme und Häuser, und noch viel mehr: „Zwischen den Ziegelsteintürmen ist ein Aquädukt. Dort fließen Wasserfälle. Und hinter dem Aquädukt befindet sich auch noch eine türkische Moschee mit Minaretten-Türmen.“
Patrick Siegl ist Autist. Er zeichnet, seit er elf Jahre alt ist. Und könnte endlos von den fantasievollen Geschichten in seinen aufwendigen Bildern erzählen. Wenn es um andere Sachen geht, ist er eher still und zurückgezogen; er schaut einen im Gespräch nicht an. Bei Kunst hingegen, findet Patrick, kann so viel Interessantes entstehen. Kunst ist ihm wichtig, „weil ich damit das machen darf, was ich am besten kann“, sagt er. Ihn faszinieren exotische Kulturen und sich wiederholende Elemente, etwa dichte Wolkenkratzer in asiatischen Großstädten oder verschnörkelte Türme in der arabischen Welt, aber auch aufgebrauste Menschenmassen.
Die Kulturen, die er zeichnet, hat er fast alle noch nicht erlebt. Seine Inspirationen holt er sich stattdessen aus Computerspielen und Computerspiele-Zeitschriften. Bis eines seiner Werke in allen Einzelheiten fertig ist, dauert es. „An dem Aktuellen zeichne ich schon seit Monaten rum“, sagt er.
Der 23-Jährige ist mit dem Euward ausgezeichnet worden, dem europäischen Kunstpreis für Menschen mit geistiger Behinderung. Von den 320 Einreichungen setzte er sich mit zwei anderen Gewinnern durch. Die Jury, bestehend aus Kunstexperten aus England, Österreich, Frankreich und Deutschland, fand Siegls Arbeiten besonders originell und authentisch. Sie begeisterte sich für seine künstlerische Sprache und eine faszinierende Energie, die in der Kleinteiligkeit seiner Bilder steckt.
Patrick Siegl arbeitet im Atelier des Heilpädagogischen Centrums Augustinum in Oberschleißheim, einer Einrichtung zur Förderung von Künstlern mit geistiger Behinderung. Im Atelier stapeln sich Kisten voller Kunstmaterialien, an den hohen Wänden lehnen etliche Leinwände, bis zu den Decken reichen die Regale, in denen Farben und Pinsel aufbewahrt sind.
„Patrick kam direkt nach der Schule zu uns, auf Empfehlung von einer Kunstlehrerin. Sie wusste, dass wir solche Arbeitsplätze anbieten, hier im Atelier, wo Künstler in Vollzeit Kunst machen können“, sagt Klaus Mecherlein, der das Atelier leitet. „Als Patrick kam, waren wir begeistert von dem, was wir gesehen haben. Wobei er sich auch in dem Umfeld wahnsinnig schnell weiterentwickelt hat. Er bekam einfach die Sicherheit.“
Das Atelier teilt sich Patrick mit etwa 20 anderen Künstlern aller Altersstufen mit unterschiedlichen geistigen Beeinträchtigungen. Der Arbeitsalltag folgt einer klaren Struktur: Er beginnt um acht Uhr morgens mit einer etwa einstündigen Besprechung. Anschließend macht sich jeder individuell ans Werk. „Wir schaffen Atmosphäre, um Künstler aufzunehmen und in ihrer Arbeit zu bestätigen, sie zu ermutigen“, sagt Mecherlein. Neben einer Grundversorgung erhalten die Künstler für ihre Atelierarbeit laut Mecherlein ein monatliches Entgelt zwischen 90 und 600 Euro, das sich auch nach den Bilderverkäufen bemisst.
Art Brut wird die Kunst der psychisch Beeinträchtigten genannt – die rohe Kunst. Der Franzose Jean Dubuffet prägte den Begriff in den Vierzigerjahren. Roger Cardinal, ein englischer Kunsttheoretiker, führte in den Siebzigerjahren für den englischsprachigen Raum den Namen „Outsider Art“ ein. Die Kunst der Außenseiter – nach einem Kompliment für die Schaffenden klingt der Begriff zunächst nicht. Klaus Mecherlein allerdings findet ihn wertschätzend. „Eine geistige Behinderung ist eine organische Beeinträchtigung, die zur Biografie eines Menschen gehört“, sagt er. „Sie prägt seine Sozialisation und Möglichkeiten zu kommunizieren, und legt somit eine Voraussetzung für das Schaffen von Kunst.“
Patrick Siegls Zeichnungen wären wohl nie entdeckt worden, hätte ihn nicht jemand gefördert. Jetzt zumindest sehen im Buchheim Museum viele Leute seine Arbeiten in der Ausstellung „Art in disability“ (läuft bis 1. März). Und sie hören ihm zu, wenn er von den skurrilen Geschichten in seinen Kunstwerken erzählt, etwa von einem Zirkuszelt, das er in kreisförmiger Draufsicht gemalt hat. „Hier sind Zehntausende betrunkene, wütende Russen, die sich blau und grün über Wladimir Putin ärgern. Und der Wladimir Putin bekommt einen Stuhl auf den Kopf. Hier wird ein asiatischer Akrobat an den Hals gepackt. Er bekommt von einem Baseballschläger auf den Kopf geschlagen. Der Akrobat weint auch noch.“ Caroline von Eichhorn