Mit offenen Augen durch die Stadt: Anna Blumenkranz bringt das Kunstprojekt „100 Word Pilgrimage“ von London nach München. Versteckte, besondere Plätze der Stadt werden von den Künstlern vorgestellt und kreativ dargestellt.
Drei rote Londoner Telefonhäuschen leuchten auf dem Bildschirm ihres Smartphones. Anna Blumenkranz, 26, (Foto: privat) ist angetan von der Stadt und ihren Menschen. Während eines Auslandsstudiums hat sie gelernt: Je schneller man von den bekannten, touristischen Wegen abkommt und seine geheimen Lieblingsplätze entdeckt, desto heimischer fühlt man sich in der Fremde. „Die Leute sollen mit offenen Augen durch die Stadt gehen und sich auf eine neue Art und Weise bestimmten Plätzen annähern“, sagt sie.
Nach ihrem Studium in Kunst und Multimedia an der LMU München
ging Anna für eineinhalb Jahre nach England, um dort ihren Masterabschluss zu
machen. Diese Zeit hat sie und ihre Kunst sehr geprägt. Durch Zufall lernte sie
dort das Londoner Künstlerkollektiv Beddow ’n’ Battini kennen – und dadurch die
geheimen, besonderen Orte der Stadt. Diese Gruppe hat in London die
Ausstellungsreihe „100 Word Pilgrimage“ initiiert – dieses Konzept hat Anna
Blumenkranz nun nach München gebracht und eine eigene Ausstellung organisiert.
Die Idee ist folgende: Zunächst notieren verschiedene Autoren ihre
Eindrücke von ausgewählten, für sie besonderen Orten in der Stadt. Dafür dürfen
sie nur 100 Worte verwenden. Die entstandenen Texte inspirieren daraufhin
Künstler, die den Ort bildlich darstellen sollen – so entstehen Malereien, Collagen
und Zeichnungen. Zum Schluss erwecken Trickfilmzeichner die Bilder und Texte zu
bewegten Animationen. Die kann der Besucher in der Ausstellung mit einer App
sogar auf seinem Smartphone oder Tablet abspielen. Die Besucher bekommen am
Ende einen Stadtplan mit allen geheimen Orten und können diese selbst abgehen.
Die Tour wird die Münchner Besucher vom 8. bis 12. Mai zu den
Eisbach-Surfern, zur Reichenbachbrücke und zur Feldherrnhalle führen. In den
Werken werden aber besondere, meist unentdeckte Details hervorgehoben oder der
Ort in einen anderen Kontext gestellt. Sandra Singh setzt sich am Odeonsplatz
zum Beispiel mit einer kleinen Absenkung im Bürgersteig auseinander. „Viele
Radfahrer im Sommer nehmen diese Abkürzung, obwohl es verboten ist“, erklärt Anna.
Oder Daniel Bacarreza. Er lässt einen Surfer in einer Tasse Kaffee, und nicht
in der Isar reiten.
Bei allen drei bisherigen Ausstellungen des Londoner
Künstlerkollektivs hat Anna sowohl als Organisatorin als auch als Künstlerin
mitgewirkt. Auf einem ihrer Bilder hat sie sich mit dem Stadtteil Rotherhithe
im Süden Londons auseinandergesetzt, hier lebte sie während ihres Aufenthalts.
Auch wenn sie bereits am zweiten Tag ausgeraubt wurde, fühlte sich Anna in
London wohl. „Durch das Projekt habe ich viel über die Geschichte des Viertels
gelernt“, sagt sie. Das Bild ist düster und zeigt eine Person, die mit den
Händen einen Fluss wie ein Stück Stoff festhält und nach oben hebt: der
Rotherhithe-Tunnel. Er wurde Anfang des 20. Jahrhunderts errichtet und verläuft
unter der Themse, heute ist dort eine stark befahrene Straße.
Die Ausstellung in München hat Anna aber nicht nur organisiert, um
auf versteckte Plätze aufmerksam zu machen. Sie wollte ebenso verschiedene
Künstler zusammenbringen, als Gruppe arbeiten lassen. „Ich brauche andere
Menschen, um kreativ zu sein“, sagt sie. „Der Austausch mit anderen inspiriert
mich.“ Zwischen der Londoner und Münchner Kulturszene will sie einen großen
Unterschied erkannt haben: Während in London eine offene Atmosphäre herrsche
und es viele partnerschaftliche Kunstprojekte gebe, würden Münchner Künstler
meist alleine arbeiten und sehr auf die eigene Person konzentriert sein. Dem
wollte Anna entgegenwirken, sie suchte 18 Münchner Künstler für das gemeinsame
Projekt.
Sehr bedrohlich und surreal wirkt Annas Bild für die aktuelle
Ausstellung: Zu sehen ist ein menschenähnliches Wesen mit tiefschwarzen
Augenhöhlen und dünnen Lippen, der Blick ist nach unten gerichtet. Sein Kopf
ist oben nicht geschlossen, sondern weitet sich zu angedeuteten Beckenknochen
aus. Daraus steigt eine Kugel, die beschriftet ist. Kurze Sätze wie „Wo ist die
versprochene Hülle“ oder einzelne Worte sind zu lesen. „Das ist die Plazenta“,
erklärt Anna. „Ich möchte die kreative Geburt darstellen.“ Die Auswahl des Themas
hat einen Grund: Anna ist im siebten Monat schwanger. Das Bild spielt auf den
Kriechbaumhof an, eine alte hölzerne Herberge im Stadtteil Haidhausen. Annas
Geburtsvorbereitungskurs findet hier statt. So fließen die persönlichen
Erfahrungen und Eindrücke der Künstler in die Werke ein und werden an den
nächsten weitergegeben. Die Animation zu Annas Bild erstellt sie aber selbst.
„Die ist noch nicht fertig“, sagt sie. „Aber ich möchte die Buchstaben und
Sätze zum Leben erwecken und auf Details im Hintergrund aufmerksam machen,
indem sie immer größer werden.“
Seit rund einem Jahr arbeitet Anna als selbständige
Medienkünstlerin und –pädagogin. Die gebürtige Ukrainerin unterrichtet in ihrem
alten Studienfach an der LMU. Außerdem gibt sie Kunst-Workshops für Kinder und
Erwachsene. Zum Beispiel im elektrischen Nähen, einer weiteren Idee, die sie
aus England mitgebracht hat. Genäht wird hier mit einem Faden, der mit Metall
vermischt ist und somit Strom leitet. Anna bringt den Kindern bei, Stromkreise
zu nähen und dadurch zum Beispiel Kuscheltieraugen aus LED-Lampen zum Leuchten
zu bringen.
An der Münchner Ausstellung arbeiten auch die Künstler aus England
mit. Vor zwei Wochen besuchten einige von ihnen die bayerische Landeshauptstadt
und setzten sich künstlerisch mit den versteckten Orten auseinander, erstellten
Texte, Bilder und Animationen wie ihre deutschen Kollegen. Einen touristischen
Anziehungspunkt konnten die Londoner Gäste nach getaner Arbeit dennoch nicht
umgehen: das Münchner Hofbräuhaus.
Weitere Informationen unter www.platform-muenchen.de.
Jenny Stern