Was studiert der Junge mit den Dreadlocks eigentlich? Welchen Kurs besucht das Mädchen, das in der U-Bahn neben uns saß? Woche für Woche folgen wir fremden Studenten zum „Zufallsstudium“. Dieses Mal heißt es: Römer versus Punier. Carolina hat es in einen Lektürekurs verschlagen. Auf Latein. Um acht Uhr früh.
Der Tod ist an diesem Morgen pathetisch. Die Römer im Kampf gegen die Punier. Es sieht schlecht aus für Roms Soldaten. Doch: Besser im Kampfe sterben und dem Feind den Weg mit einem Wall aus Leichen versperren, als feige sein. Denn nur der Tapfere stirbt einen glücklichen Tod, dem Feigen hingegen verkürzt sich ein langes Leben zu einem kurzen Augenblick. So oder so ähnlich heißt es in Petrarcas Epos „Africa“. Wenn ich das richtig verstanden habe. Verstehen, das ist mein Problem: Ich bin in einen Lektürekurs geraten. Auf Latein. Um acht Uhr früh.
Fünf Minuten zuvor: Ich folge einem jungen Mann. Braune Jacke, braune Schuhe, dunkle Jeans. Sieht normal aus. Was studiert einer, der normal aussieht? Wir betreten einen Vorlesungssaal im Hauptgebäude der LMU, ich setze mich eine Reihe hinter ihn. Auf den Tischen, hier und da, einige Gesetzbücher. BGB. Oh je, Volltreffer. Recht, da hatte ich in der Schule doch immer eine Drei oder Vier. Das einzige, was ich noch weiß, ganz aus dem Kontext gerissen: Auch Unterlassen kann eine Handlung sein. Also unterlasse ich. Ich unterlasse es, zu bleiben. Denn irgendwann, kurz vor Kursbeginn teilt die Dozentin Blätter aus. Prüfungsbögen. Ich bin in eine Klausur geraten. Panik. Schnell weg hier, rein in den nächstgelegenen Hörsaal.
Mitten in die Schlacht zwischen Römern und Puniern. Erst mal hinsetzen und durchatmen. Hach, Latein. Eine alte Sprache, die alte Gefühle weckt: Dieses Unbehagen, wenn man in der neunten Klasse plötzlich laut vorübersetzen musste. Und fünf Minuten brauchte, um einen Satz aus zehn Worten zusammenzustöpseln. Wenn der nette Dozent mit dem blauen Pulli und der Halbglatze hier in der Uni einen aufruft, zögert niemand. Die Studenten übersetzen so fließend und schnell als lese man Englisch. Mit jedem Satz die Angst: Irgendwann bin ich an der Reihe. Und dann gibt es nur mich – und all die vergessenen Vokabeln, den Ablativus Absolutus, das PPP, die Deponentien…
Man erspart es mir. Ein Glück. Wie in jeder Philologie, sind es Feinheiten, die im Kurs diskutiert werden: Wie übersetzt man dieses Wort am besten? Was jene Metapher wohl meint? Und wie geht man eigentlich mit Textstellen um, in deren Originalhandschrift ein Teil verloren ging? Das klingt detailverliebt. Unwichtig. Ist es aber nicht. Wir denken oft, es brauche nicht viel, um zu verstehen, machen uns gar nicht erst die Mühe, uns länger mit etwas zu beschäftigen. Sogar in meinem geisteswissenschaftlichen Studium habe ich das oft erlebt. Ein Text ist ein Text, also kann man ihn gefälligst auch verstehen. Und zwar sofort.
Doch was, wenn all das weit weg scheint? Die Feldzüge, die Römer? Die getragene Rede von Vaterland und Heldentum? Es tritt einem gegenüber und fordert vom Papier herunter, eingeordnet zu werden. Von uns. Viele Jahrhunderte später. Der Autor ist schließlich tot, bild- wie körperlich gesprochen. Da macht es ein Unterschied, ob „voluptas“ an dieser einen Stelle im Text „Vergnügen“, „Wunsch“ oder „Genugtuung“ meint. Allmählich weiß ich wieder, warum mir diese Sprache einst Spaß gemacht hat. Man fühlt sich wie ein Schatzsucher. Die Studenten graben sich durch komplizierte Satzstellungen und abstruse Metaphern zu Bedeutungen vor. Schicht für Schicht wird ein Sinn freigelegt als sei er ein kostbarer Fund fürs Museum. Das erfüllt. Und macht ein bisschen pathetisch. Denn ach, ihr Dichter, wann starb schöner je ein Krieger als in den Schlachten Roms?
Von: Carolina Heberling
Foto: Lukas Haas