Zufallsstudium: Begraben unter Gesetzestexten

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Weil unser Autor einem Studenten erst in die Freistunde folgt, muss er sich beeilen, um nicht ergebnislos in der Haupthalle zurückzubleiben. Und prompt platzt er in eine Juravorlesung.

Als ich den
weiten Raum betrete, sehe ich sie schon. Es graust mich. Auf jeder Reihe des
Hörsaals liegen die seit der Mittelstufe gefürchteten dicken weißen Bücher aus,
mit großen farbigen Buchstaben bedruckt. „ÖffR“ steht dort geschrieben. Und
darunter: „Basistexte Öffentliches Recht“. Ich bin tatsächlich in einer
Juravorlesung gelandet.

„Bloß nicht
Jura oder BWL!“ denke ich mir, als ich zehn Minuten zuvor durch die hohen Türen
in die Uni-Haupthalle laufe. Vor Wirtschaft und Recht grauste ich mich schon zu
Schulzeiten, viel eher träume ich bereits von einem Ethnologie- oder
Philosophievortrag. Der Tag sollte sowieso noch einiges an Überraschungen
bereithalten, weil ich mich erst ein einziges Mal zuvor durch diese großen
Türen hindurch getraut hatte. Das war auch nicht wirklich während dem regulären
Universitätsbetrieb. Sondern nachts um 10 bei der großen Erstsemester-Party der
LMU. Zeit also, nun endlich einmal in diese große, spannende Welt der
Wissenschaft einzutauchen.

Als Neuling
wollte ich in diesem unbekannten Milieu keinesfalls auffallen und so erscheine
ich gerade noch so pünktlich -zehn nach zehn- auf dem Geschwister-Scholl-Platz.
Aus allen Richtungen eilen junge Leute in die große Halle, stürmen fast schon
durch mich hindurch. Da erblicke ich auch schon mein Opfer: langsam schlürfend
bewegt er sich die Treppen empor, in der einen Hand eine Brotzeittüte. Sein
Kopf bewegt sich im Takt zu einem Beat aus den schwarzen Kopfhörern vor und
zurück. Diese Ruhe, die dieser Student ausstrahlt inmitten all der Hektik, sie
macht ihn mir auf Anhieb sympathisch. Schnell merke ich allerdings, dass er
einen bestimmten Grund hat, sich so viel Zeit zu lassen: er muss in keine
Vorlesung eilen. Als er die Mitte der Eingangshalle erreicht, kramt er einen
Tabakbeutel hervor und beginnt, sich eine zu drehen. Sackgasse.
Mit dieser Person lässt es sich wohl wunderbar über Entschleunigung
philosophieren, ich selbst muss jetzt aber weiter.

Schon sehe
ich zwei jüngere Studentinnen mit prall gefüllten Hugendubel-Jutebeuteln die
Treppen hochlaufen und folge ihnen. Literaturwissenschaft vielleicht oder
Romanistik, denke ich mir freudig. Bis die beiden die Tür zum halb gefüllten Hörsaal
öffnen. Ich folge ihnen und plötzlich bin ich ganz umringt von diesen
Gesetzestexten, von denen ich seit der Oberstufe größtmöglichen Abstand zu
halten pflegte.

Ich setze
mich in eine der hinteren Reihen und krame Block und Stift hervor. Jetzt bin
ich wohl doch zu spät gekommen. Vorne spricht bereits der Dozent. Der rollt jedes
seiner Rs rollt und wirkt erstaunlich jung für einen Professor. Auf der Tafel
stehen bereits jene Abkürzungen und Zahlen, die mir schon immer unheimlich
waren: „Art. 24 GG“, soviel verstehe ich auch noch. „Die Bundesrepublik und die
europäische Union“ ist der Titel der Powerpoint-Präsentation, was mich aufatmen
lässt. Meine Angst, innerhalb der nächsten eineinhalb Stunden unter einem Berg
von Paragraphen, Verordnungen und Vertragserfüllungsbürgschaften zu  versinken, sinkt gewaltig.

Und tatsächlich
schafft es der Dozent, auch in mir Interesse zu wecken. Es soll in dieser
Vorlesung vor allem um die Verträge gehen, die die Bundesrepublik mit der EU
abgeschlossen hat. Zu Beginn bekommen wir einen kurzen historischen Abriss über
die Entwicklung in Europa hin zu einer gemeinschaftlichen Organisation
präsentiert. Ich lerne, dass der europäische Integrationsauftrag bereits im
Grundgesetz festgesetzt wurde. Dabei ist der Dozent bemüht, dieses doch recht
trockene Thema durch kurze Diskussionen aufzulockern. Einmal bemerkt eine
Studentin aus den vorderen Reihen etwa, dass die EU mehr zu einer Wirtschafts-
als zu einer Friedensgemeinschaft angewachsen ist.

Recht
schnell fallen allerdings Begriffe wie Subsidiarität oder relativer Anwendungsvorrang,
andere Abkürzungen wie EUZBLG und IntVG müssen eigentlich gar nicht mehr
erklärt werden. Ich habe das Gefühl, ein Buch erst von der Mitte an zu lesen
und schließe kurz die Augen. Mein Kopf brummt. Im zweiten Anlauf kann ich dann
doch ganz gut mithalten. Im Grunde wird uns erklärt, über welche Kompetenzen
und Entscheidungen die EU verfügt und wo die einzelnen Staaten noch das Sagen
haben. Der Kern der Staatsidentität muss bewahrt werden, so steht es auch im
Grundgesetz.

Die meisten
meiner Zufalls-Kommilitonen scheinen allerdings genauso wenig zu erahnen,
worüber genau der Professor gerade spricht. Die Köpfe werden schwer. Selbst
das permanente Gemurmel aus der Reihe hinter mir vergeht in müdes Gähnen. Klüger
fühle ich mich inzwischen auf jeden Fall: ich habe gelernt, bis zu welchem Grad
die Europäische Union in nationale Gesetze eingreifen darf und warum ein
„nationaler Identitätsschutz“- zumindest aus juristischer Sicht- durchaus
wichtig ist.

Ich hätte es
schön gefunden, wenn der Kurs die angebliche Notwendigkeit dieser nationalen
Identitäten stärker hinterfragt hätte, das ist aber wohl eher was für Politik-
oder Kulturwissenschaftler. Gleichzeitig betont der Dozent immer wieder, wie
wichtig uns allen die EU trotz all der Kritik und gerade auch wegen dieser
unsicheren Zeiten sein sollte. Wie ich finde, etwas das nicht oft genug
ausgesprochen werden kann.

Bald beendet
er auch die Vorlesung mit Verweis auf weiterführende Veranstaltungen im
Sommersemester. Ich packe mein Zeug zusammen und stürze durch die Menschenmasse
hindurch in Richtung Ausgang. Vielleicht, denke ich mir beim Hinauslaufen in
die Herbstsonne, vielleicht sollte ich diese weiterführenden Veranstaltungen
ebenfalls besuchen.

Text: Louis Seibert

Foto: Lukas Haas