Als Baby wurden Noel Cousley Lemke seine Unterschenkel
und Unterarme amputiert – heute zeigt er auf seiner Internetseite, wie er dennoch ein normales Leben führen kann.
Die Kräfte, die im Fahrgeschäft „Parkour“ auf dem Oktoberfest auf die Beine wirkten, waren einfach zu stark. Und obwohl Noels Freunde versuchten, seine Beine aufzufangen, schlug das eine in eine Mauer ein, während das andere in die Menschenmenge flog, dabei aber glücklicherweise niemanden traf. Der Inhaber des Fahrgeschäfts war außer sich – und schickte Noel weg. „Er ist damit nicht klargekommen, der hatte so etwas noch nie erlebt“, sagt Noel Cousley Lemke, 20. Er grinst, wenn er diese Anekdote erzählt. Solche Erlebnisse sind für ihn nichts Ungewöhnliches, denn seit er in frühester Kindheit Unterarme und Unterschenkel verlor, ist er auf Prothesen angewiesen.
Im Alter von neun Monaten wurde bei ihm eine akute Blutvergiftung diagnostiziert, ausgelöst durch eine Meningokokken-Infektion. Die behandelnden Ärzte mussten damals verhindern, dass sich die Infektion von den Gliedmaßen auf überlebenswichtige Organe wie Herz oder Lunge ausbreitet. Sie entschieden, dass die einzige Möglichkeit, Noels Leben zu retten, eine Amputation der Unterarme und Unterschenkel sei.
Nach der erfolgreichen Operation wurde der junge Deutsch-Jamaikaner in ein Kinderheim am Bodensee gegeben, da sich seine leiblichen Eltern nicht angemessen um ihn kümmern konnten. Dort blieb Noel bis zu seinem neunten Lebensjahr, als ihn schließlich eine Krankenschwester, die seine Operation begleitet hatte, adoptierte und zu sich nach Rosenheim holte. Wenn er seine Lebensgeschichte erzählt, verwendet Noel häufig einen Satz, immer wieder: „Ich konnte immer alles machen.“
Er betont kontinuierlich, dass ihn das Fehlen seiner Hände und Füße im Alltag heute nicht mehr einschränkt. Nichtsdestoweniger seien besonders die frühe Kindheit und Grundschulzeit hart gewesen. Es sei häufig schwierig gewesen, mit anderen Kindern in Kontakt zu kommen, da diese ihn meist gemieden hätten. Auch musste er regelmäßig ins Krankenhaus, verlor dadurch viel Zeit in der Schule und verpasste viel vom Lernstoff. Wenn er über diese Zeit spricht, sagt Noel, dass ihm dabei häufig ein Vorbild gefehlt habe. Er hatte zwar einen älteren Kumpel, das sei toll gewesen – aber er hätte gerne jemanden gehabt, der sich in einer ähnlichen Situation wie er selbst befindet. Dass ihm so jemand fehlte, sei nicht immer ganz leicht gewesen.
Seine Kindheitserfahrungen und der Wille, den Menschen zu zeigen, dass ein Handicap nicht das ganze Leben ruinieren muss, brachten Noel dazu, eine eigene Facebook-Seite zu starten. Er wurde innerhalb kürzester Zeit zu einer Art Facebook-Berühmtheit, teilweise hatte er bis zu 4000 neue Facebook-Fans am Tag. Er hatte zuvor acht Jahre lang in einem Fußballverein gespielt, bis ihm die Doppelbelastung aus Arbeit und täglichem Training zu anstrengend wurde. Denn bei beidem trug er seine Beinprothesen und das lange Tragen bereitete ihm manchmal Schmerzen, auch wenn ihn die Prothesen nicht daran hinderten, in einer normalen Fußballmannschaft mithalten zu können.
Aufmerksamkeit erreichte er allerdings erst in einem sozialen Netzwerk. Noel postete einfach mal bei Facebook ein Video, in dem er einige seiner Tricks mit dem Ball zeigte – allerdings komplett ohne Prothesen. Obwohl es nie sein Ziel war, mit dem Video im Netz „groß zu werden“, wie er selbst sagt, führten dieses und folgende Videos dazu, dass seine schlicht „Noel“ betitelte Facebook-Seite mittlerweile mehr als 26 000 Fans hat.
Ein entscheidender Faktor dabei war, dass Prominente wie Bayern-Profi Bastian Schweinsteiger oder Schauspieler Til Schweiger auf ihren Facebook-Seiten Noels Fußballvideo verbreiteten. Seitdem veröffentlicht Noel regelmäßig kurze Filmchen, in denen er seinen Alltag beschreibt. Er beantwortet offen alle Fragen danach, was er trotz seines Handicaps alles kann – zum Beispiel Autofahren, ein Smartphone nutzen. Auch wollen viele wissen, was ihm Schwierigkeiten bereitet – Schnürsenkel binden, Essen schneiden. Noel sagt: „Ich will den Leuten vor Augen führen, dass man immer ein glückliches Leben führen kann, egal wie schlimm es auf den ersten Blick erscheint.“ Lachend fügt er noch hinzu: „Man muss sich nicht drinnen verbarrikadieren, weil man einen krummen Zeh hat oder etwas Ähnliches.“
Dass diese Art von Aufklärung dringend nötig ist, wird klar, wenn Noel durch die Stadt geht. Es mache ihn nichts wütender, als wenn er von wildfremden Menschen minutenlang angestarrt wird, auch das eine Folge seiner Kindheitserfahrungen. Manche wenden sogar betroffen den Blick ab. Dies mag daran liegen, dass Noel nie Armprothesen trägt, da er sie schlicht nicht braucht. Aber die Haltung vieler Menschen ärgert ihn: „Wenn kleine Kinder mich anstarren, dann ist das schon okay. Aber wenn mich ein erwachsener Mann erst einmal zehn Minuten angafft, muss man sich schon Gedanken machen.“ In solchen Fällen geht er auch mal aktiv auf Menschen zu und spricht sie auf ihr Verhalten an. Man merke dann, wie unangenehm das der angesprochenen Person sei. Mit seiner Facebook-Seite geht Noel einen Schritt weiter, er möchte in seinen Videos häufig einfach nur Normalität demonstrieren.
Wenn man durch die Reaktionen auf seiner Seite stöbert, liest man sehr viel von Respekt. Noels Videos hinterlassen bei vielen seiner Fans einen bleibenden Eindruck, er ist zum Vorbild geworden. Dabei darf nicht unerwähnt bleiben, dass seine Seite nicht nur einen ernsten Hintergrund hat, sondern in erster Linie auch Spaß machen soll, dementsprechend sind nicht alle Videos nur auf Noels Handicap bezogen.
Momentan konzentriert Noel sich darauf, seine Ausbildung zum Bürokaufmann erfolgreich abzuschließen und danach eine Arbeitsstelle zu finden. Auf lange Sicht hofft er aber, einen Weg zu finden, wie er von seinem Online-Auftritt leben könnte. Philipp Kreiter