Zeichen der Freundschaft: Nächtliche Bildinterpretation

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Bildinterpretationen behandelt man irgendwann einmal im Unterricht. Eigentlich. Unsere Autorin und ihre beiden Freundinnen analysieren dagegen Werbeplakate an Bushaltestellen und machen sich das zum abendlichen Ritual.

Das samtene Fell des Friesen schimmert silbern im Licht des vollen Mondes. Der kleine Junge, der dem Pferd nur bis etwa zur Brust reicht, streckt vorsichtig die Hand aus, um die Nüstern des majestätischen Tiers zu berühren. Thea, Jasmine und ich nähern uns voller Erwartung. „So meine Lieben“, bricht Thea das Schweigen, „was werden wir heute in diesem Kunstwerk entdecken?“ Die
romantische Szene zwischen schwarzem Pferd und kleinem Jungen in Regenparka wiederholt sich an jedem unserer gemeinsam verbrachten Abende, an deren Ende Thea und ich Jasmine nach Hause begleiten. Auf einem überdimensionalen Werbeplakat an einem Bushäuschen, genau an der Stelle,
an der Jasmine sich von uns verabschiedet, um die Straße zu ihrem Wohnhaus zu überqueren.

Zugegeben, an dem Abend, an dem wir zum ersten Mal bemerkten, wie realistisch, interessant und detailliert uns das für eine britische Bank werbende Plakat vorkam, waren wir alle etwas angesäuselt vom Rotwein. Dennoch nehmen wir die Aufgabe der Bildinterpretation seither sehr ernst. „Ich glaube, der Regenparka steht dafür, gewappnet zu sein für schlechte Zeiten“, sagt Jasmine heute mit gerunzelter Stirn. Ich kichere. „Oder seine Mama war einfach super nervig – nach dem Motto: nimm deine verdammte Jacke mit, sonst erkältest du dich noch, wenn du schon wieder dieses Pferd am Strand besuchst“, gebe ich zu Bedenken. Meistens hat jedoch Thea die beste Interpretation auf Lager, denn sie ist mit Abstand die lustigste von uns dreien. Jasmine schafft es hingegen immer wieder, am aufgeräumtesten und zugleich verplantesten zu sein und ich – ich backe den besten Kuchen und habe zu meinem eigenen Unverständnis ständig irgendein neues Männerproblem zu besprechen, das mich völlig überfordert. Manchmal kommt mir unsere Freundschaft selbst vor, wie eine sehr romantische Fotografie (von denen ich mittlerweile auch so viele habe, um ein ganzes Zimmer damit tapezieren zu können – Erinnerungen an all die verrückten Dingen, die wir während des vergangenen Jahres unseres gemeinsamen Studiums in Oxford erlebt haben). Ich habe die beiden Kanadierinnen (aus unterschiedlichen Provinzen – was wichtig ist!!!) gleich am ersten Tag des Semesters kennengelernt, als wir als einzige ein bisschen verloren am von unserer Fakultät organisierten Buffett standen und nicht so recht wussten, wie wir am besten höflichen Small-Talk mit all den distinguierten Professoren führen sollten. Natürlich könnte man sehr fatalistisch behaupten, der erste Tag an jeder Uni würde einfach determinieren, mit wem man für den Rest des Jahres befreundet ist. Ich glaube jedoch stur, dass es mehr als Zufall sein musste, genau diese beiden jungen Frauen auf einmal kennenzulernen. Denn ich glaube an romantische Gemälde und die Kraft des Schicksals, vor allem wenn es um zwischenmenschliche Begegnungen geht. Während Thea, Jasmine und ich in vielen Dingen sehr unterschiedlich sind, sind wir in ebenso vielen Dingen genau gleich. Beispielsweise teilen wir seit neun Monate die Überzeugung, nicht ganz so genial zu sein, wie man es eigentlich sein sollte, wenn man einen Platz an einer „Eliteuniversität“ ergattert hat. Genauso wie die Beobachtung, dass wir viele der bierernsten Traditionen und Ansprüche und Rituale und Diskussionen in Oxford nicht ganz ernst nehmen können. Deshalb können wir uns gegenseitig zugleich Rettungsanker und Stimmungsbombe sein, wenn es um Ratsch, Tratsch, gemeinsame Abendessen, Theater-, Kino-, und Konzertbesuche und nicht zuletzt therapeutische Gesprächsrunden geht. Wenn ich unsere Freundschaftsdynamik
interpretiere, so wie wir mehrmals wöchentlich das Bushäuschen-Plakat interpretieren, würde ich zu dem Schluss kommen, dass die Tatsache, dass Thea und ich Jasmine Abend für Abend nach Hause begleiten – weil sie eben ein bisschen ängstlicher ist als wir – als Zeichen dafür gesehen werden
kann, dass wir füreinander da sind, egal wann, egal wo und dass wir es schaffen, den anderen ernst zu nehmen, ohne jemals den Humor zu verlieren. Genau deshalb kann ich es mir auch nur mit diesen beiden Menschen vorstellen, mitten in der Nacht zum gefühlt hundertsten Mal vor einem Bushäuschen im Norden Oxfords zu stehen und die tiefenpsychologischen Absichten eines Werbefotografen zu analysieren.


Text: Theresa Parstorfer

Foto: Yunus Huttere

Fremdgänger: Heiß, sehr heiß

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Über das Wetter reden ist eine der bekanntesten Smaltalkstrategien überhaupt. Darin sind wir Deutschen gut. In England scheint das eine Methode der Verarbeitung zu sein.

Schweiß bildet sich auf meiner Stirn. Ein wenig verzweifelt überlege ich mir, was ich noch ausziehen könnte, ohne völlig nackt am Schreibtisch zu sitzen. Aber so besonders viel ist da nicht mehr übrig, denn da sich die Temperaturen in Oxford seit mehr als einer Woche im 30-Grad-Bereich aufhalten, trage ich mittlerweile ausschließlich die leichtest möglichen Sommerkleider und berufe mich regelmäßig auf mein Hitze-Mantra: „Englisches Wetter rockt.“ Das wirkt nach wie vor erstaunlich gut. Denn auch wenn ich persönlich keinesfalls der enthusiastischste Hitze-Fan bin, erweist es sich als erfrischende Genugtuung, meinen Freunden in München Fotos zu schicken, von Bootsfahrten durch englische Parklandschaften im Bikini.

Während meines Bachelorstudiums in München verbrachte ich den Großteil meiner Sommer über Seminararbeiten schwitzend in gut klimatisierten Bibliotheken in der Innenstadt. Deshalb handelt es sich bei den helleren Streifen, die sich mittlerweile auf meinen Schultern zwischen leicht gebräunter Haut abzeichnen, schon um eine kleine Sensation. Vor ein paar Wochen habe ich mein Studium offiziell abgeschlossen und somit zum ersten Mal seit Jahren Zeit, mit einem Roman im Park zu sitzen, Fahrradtouren zu romantischen Palästen zu unternehmen oder mich in einer weiteren Oxford-Tradition, dem Punten (Stocherkahnfahren), zu üben.

Vor einem Jahr, bevor ich zu meinem England-Studium aufbrach, war der zweithäufigste Kommentar, gleich nach: „Oh je, das englische Essen …“, den ich mir anhören musste, ein Verweis auf das angeblich grauselige britische Wetter. Sicherlich, Stimmen munkeln, 2016/17 sei ein besonders mildes Jahr im Vereinten Königreich gewesen. Von daher könnte ich einfach nur Glück gehabt haben. Allerdings halte ich Wetterfragen im Allgemeinen für relativ und die universale Verunglimpfung des englischen Wetters für mehr als übertrieben und deshalb unangebracht. Ich verstehe meine Freunde aus Kalifornien oder Singapur, für die der Winter hier mit Sicherheit eine schockierende Umstellung dargestellt haben muss. Jedoch muss ich ausgehend von meiner deutschen Perspektive zu Bedenken geben, dass es in Oxford weder tagelange Regenfälle gibt, die Keller unter Wasser setzen, noch Schneestürme, die den öffentlichen Nahverkehr lahmlegen, wie ich es von zu Hause nur allzu gut kenne.

Interessanterweise scheinen es jedoch insbesondere Engländer selbst zu sein, die mir gegenüber ihre Frustration angesichts des Wetters aussprechen. Des Öfteren unterhalte ich mich mit meinem Mitbewohner Barney über unvorhergesehenen Sprühregen und dichte Nebelbänke. „I wish there would be more sun in England“, sagt er immer und immer wieder. Besonders für ihn freue ich mich deshalb über diesen strahlenden Sommer. Doch an einem dieser Tage finde ich Barney erschöpft auf unserer Küchen-Couch sitzen. Verzweifelt fragt er mich: „Why is it so hot?“ Zuerst bin ich aufrichtig verwirrt, aber dann fällt mir ein anderes unserer Gespräche ein, während dem er mir erklärte, dass die englische Taktik, mit dem Wetter umzugehen, genau darin bestehe, darüber zu sprechen. Vielleicht ist demnach das Sich-über-das-Wetter-Beschweren schon so etwas wie kulturelle Umgangsform und gar nicht unbedingt an die tatsächliche Grausamkeit eben jenes geknüpft. Darauf möchte ich Barney in diesem beschwerlichen Moment jedoch nicht aufmerksam machen, denn für den einzig passend erscheinenden Kommentar fällt mir keine dem englischen Höflichkeitsethos entsprechende Übersetzung ein: „Euch kann man es wohl auch nicht recht machen.“

Text: Theresa Parstorfer

Foto: Privat

Shooting-Star

Tagsüber studiert Christine Bluhm Spanisch und Französisch auf Lehramt. Nachts schneidet sie selbst gedrehte Modeclips. Nach einem klassischen Lebensweg sieht es bei der 25-Jährigen derzeit nicht aus

Kamera, Stativ, Schnittprogramm. Christine Bluhm, 25, braucht nicht mehr, um mit den Profis der Branche mitzuhalten. Sie studiert Französisch und Spanisch auf Lehramt. In diesem Jahr will sie ihr Studium beenden. Nebenbei produziert die junge Frau seit gut einem Jahr Clips. Drehen und Schneiden hat sie sich selbst beigebracht. Hin und wieder wird sie für ihre unkonventionelle Herangehensweise belächelt. Nicht selten halten sie die Profifilmer am roten Teppich für eine Praktikantin oder eine Hobbyfilmerin. „Wo ist dein Equipment? Das werde ich oft gefragt“, sagt Christine, wenn sie ihre kleine Handkamera auspackt. Kleine Sticheleien, auf die sie inzwischen gelassen reagieren kann, denn sie hat Erfolg. Neulich bekam sie den Auftrag, eine Charity-Gala zu Gunsten der Stiftung von Auma Obama, der Halbschwester von Barack Obama, zu filmen. 

Wenn die Profis auf Veranstaltungen noch damit beschäftigt sind, ihr Stativ aufzubauen, hat Christine die ersten Bilder meist schon im Kasten. „Auf einem Event geht es darum, die besten Sequenzen zu filmen, und da kann ich nicht immer mit dem Stativ ankommen“, sagt sie unbedarft. Hanebüchen, mag der ein oder andere denken, der sich am Regelbuch orientiert. Ihr ungelernter Blick macht Christine frei. Unkonventionell. Es interessiert sie nur am Rande, ob die Bilder immer scharf sind, ihr geht es nur um natürliche Bilder und Emotionen. Alles bleibt unbearbeitet. Möglichst echt. Nur so könne man emotionale Bilder drehen, sagt sie.

Als 14-Jährige hat Christine angefangen zu filmen. Sie dokumentiert Familienurlaube, den Abi-Ball, die Organisation ihres Erasmus-Aufenthalts in Lille. In Frankreich stehen Vorlesungen zu französischem Film und Dramaturgie auf dem Lehrplan. Begeistert besucht sie jede Vorlesung. Eine Dozentin wird nicht müde zu betonen, dass viele Filmemacher und Fotografen Quereinsteiger waren. Ein letzter Schubser für die ehrgeizige Studentin. „Ich habe gemerkt, dass ich nicht alleine mit der Idee bin, etwas zu machen, was ich nicht studiert habe“, sagt sie. Christine atmet tief aus, die Erleichterung darüber wird spürbar. Als sie zurück nach Deutschland kommt, gründet sie myfashionclip.com. Ein Blog, auf dem sie sich, wie sie sagt, „den ästhetischen Dingen des Lebens“ widmet. Einige ihrer Freundinnen seien Models, da schien es ihr naheliegend, mit ihnen als Filmmotiv zu arbeiten. 

Für ihren ersten Clip filmt Christine eine Freundin, die hübsch zurechtgemacht durch die Straßen von Altschwabing zieht. Hier ein Blick über die Schulter, da ein Lächeln in die Kamera. Banal – eigentlich. Aber die Art und Weise, wie sie das rothaarige Model in Szene setzt, ist nicht weit entfernt von einem Clip, der auch auf der Seite der Vogue anklickbar sein könnte. „Die Vogue-Clips waren mein Vorbild“, sagt Christine, die einen modischen Oversize-Pulli mit farblich harmonierendem Schal trägt. Generell spricht sie gerne von ihren Vorbildern und Menschen, die sie antreiben. Meist sind das Autodidakten.

Ihr zweiter Clip zeigt eine Freundin, die Schuhe entwirft. Peu à peu baut sich Christine so ihr Portfolio auf. „Voller Fehler sind meine ersten Clips“, sagt sie und lächelt. Dennoch reicht es, um mit diesen Clips nach Düsseldorf auf den Event eines Start-ups aus der Modebranche eingeladen zu werden. Als sie nach München zurückfährt, hat sie schon ein, zwei Folgeaufträge in der Tasche. Hier und da habe es auch Kritik gegeben, aber auch das schüchtert die junge Filmemacherin nicht ein. Stattdessen entwirft sie Visitenkarten und meldet sich für die „Bits and Pretzels“, eine Messe für Start-ups, an. „Mir fehlten ja die Kontakte, die andere schon aus dem Studium haben“, sagt sie. Also netzwerkt sie. Lernt einen Filmstudenten aus Berlin kennen. Der zeigt ihr, wie man Drehbücher schreibt. Auf einer Zugfahrt von München nach Ulm lernt sie per Zufall eine Cutterin kennen, die 3-D-Animationen fürs Kino schneidet.

Mittlerweile hat sie eine neue Kamera gekauft, für den Notfall auch ein Stativ. „Ich filme lieber aus der Hand“, sagt sie. Nicht jeder habe eine ruhige Hand, sie aber schon. Außerdem gehe es ja darum, die echte Welt zu zeigen. „Mich langweilen starre Konzepte“, sagt sie.

Gleiches gilt auch für ihr Studium. „Wenn ich wirklich noch Lehrerin werden sollte, dann müsste der Lehrplan schon etwas alternativer sein, mit Film zum Beispiel“, sagt sie und lacht. Aber nach einem klassischen Lebensweg sieht es derzeit nicht aus. Die Aufträge häufen sich. „Ich sitze oft in der Vorlesung und schreibe nebenbei Angebote“, sagt sie. Eine Getriebene. Stillstand kennt sie nicht. Tagsüber Uni, nachts Schneiden. Mittags ein kleines Nickerchen. „Ich habe nie das Problem, nicht zu wissen, wie ich anfange. Ich muss mich eher entscheiden, mit was ich anfange“, sagt sie. 

Christine tippt auf ihrem Laptop. Scrollt ihre Homepage auf und ab. „So viel Arbeit“, sagt sie. Die Website müsse endlich umgebaut werden und auch das mit dem Namen, myfashionclip, passe nicht mehr so richtig. „Ich will nicht nur Mode machen“, sagt sie und zieht ihren rechten Nasenflügel nach oben. Muss sie auch nicht. Die deutsche Krebsgesellschaft hat sie beauftragt, einen Clip über Prostatakrebs umzusetzen. Inklusive einer Kooperation mit der alljährlich stattfinden „Movember-Aktion“, für die sich Männer weltweit einen Schnauzbart stehen lassen. Sie habe schon eine genaue Vorstellung von der Dramaturgie des Kurzfilms. Eine Doku-Fiction schwebt ihr vor. „Ich will, dass diejenigen, die den Film sehen, Tränen in die Augen bekommen“, sagt sie zielsicher. Nur wie sie das mit ihrem Studienabschluss kombiniert bekommt, das wisse sie noch nicht. „Irgendwie wird es schon klappen“, murmelt sie.  

Text: Esther Diestelmann

Foto: Kristijan Golesic

Fremdgänger: Nummer 5 darf rudern

Wenn man als eingefleischte Münchnerin in die Welt zieht zum Studieren, erwartet einen immer der ein oder andere Kulturschock. Unter all den neuen Eindrücken aus der großen, weiten Welt ruht aber die Sehnsucht nach der Heimat.

Ich bin die Nummer 5. Und gerade ist es meine Aufgabe, das Boot zu stabilisieren. Dafür muss ich das Paddel flach aufs Wasser drücken.

Es ist halb sieben Uhr morgens und feine Nebelbänke ziehen über die noch dunklen Wasser der Themse. Immer wieder werden sie durchschnitten, von langen, dünnen Ruderbooten oder den kräftigen Stimmen der Coxes, die durch an den Booten befestigte Lautsprecher verstärkt werden. Die Aufgabe eines Cox ist es, am Ende des Bootes zu sitzen und den acht Ruderern im Boot Anweisungen zuzurufen.

Der Cox in meinem Boot heißt Jenny, hat rote Haare, Sommersprossen und einen sehr schönen britischen Akzent. Deshalb stört es mich auch nicht, dass sie seit einer gefühlten, eisigen Ewigkeit, immer wieder wiederholen muss, dass Nummer 5 gerade nicht rudern soll, sondern das Boot gerade halten. Ich mache das immer wieder falsch, nicht nur, weil ich tatsächlich lieber Rudern würde (mir ist kalt, und außerdem macht es erstaunlich viel Spaß), sondern auch, weil Ruder-Jargon ganz schön verwirrend ist. Da gibt es einen Begriff für die Ruderer, deren Ruder nach rechts in den Fluss ragen („stroke-side“), und einen für die andere Seite („bow-side“). Und dann gibt es einen Begriff für den hinteren Teil des Bootes („bow-four“) – die Nummern eins bis vier – und einen für den vorderen Teil („stern-four“) – also Nummer 5 bis 8. Die bringe ich ständig durcheinander, weswegen ich nie so genau weiß, wer gemeint ist, wenn einer dieser vier Begriffe fällt. Aber das wird schon noch, sage ich mir – ist schließlich das erste Mal, dass ich in einem Ruderboot sitze.

Ich frage mich, ob in München jemals ein Student auf die Idee kommen würde, um halb sechs Uhr morgens aufzustehen, aufs Fahrrad zu steigen, obwohl die Hände schon am Lenker festzufrieren drohen, um dann zwei Stunden in einem dünnen Ruderboot auf einem schon erstaunlich geschäftigen Fluss zu paddeln. Vielleicht, denke ich mir, vielleicht gibt es ja ein paar Münchner, die vor Sonnenaufgang im Eisbach surfen.

Aber wenn ich mich an die großen Augen erinnere, die ich in München regelmäßig erntete, wenn ich gestand, dass ich um halb sechs aufstehen müsse, um eine Acht-Uhr-Vorlesung besuchen zu können (ja, ich wohne sehr weit „draußen“) und daran, wie spärlich besucht diese Vorlesungen dann waren, komme ich zu dem Schluss, dass Frühaufstehen unter Münchner Studenten eher die Ausnahme darstellt.

Gegen Ende des Trainings darf Nummer 5 sogar noch ein bisschen rudern, und als mein Paddel durch das klare Wasser zieht, sich langsam die ersten Sonnenstrahlen durch die Büsche am Flussufer wagen und der Himmel in ein sanftes Rosa getaucht wird, weiß ich auf einmal, warum das Frühaufstehen zumindest in bestimmten – genauer gesagt, den rudernden – Oxford-Kreisen etwas ganz Natürliches ist.

Text: Theresa Parstorfer

Foto: Privat

Haus gegen Dose

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Bestes Geschäftskonzept aller Zeiten? BWL-Student Philipp Christov (Foto: Schiwani Kakor) möchte mit Tauschgeschäften Reichtum anhäufen. Nicht für sich. Am Ende der Kette steht ein Eigenheim für Flüchtlinge – wenn er es schafft.

Von Theresa Parstorfer

Mit einem Dosentelefon fing alles an. Philipp Christov ist 23 Jahre alt, studiert in München im fünften Semester BWL, hat dunkles, perfekt gestyltes Haar und trägt ein sehr schickes, weißes Hemd. Der Kragen seiner schwarzen Jacke ist allerdings falsch herum eingeschlagen und wenn er lacht, wirkt er ein wenig wie ein kleiner Junge, der von einem Streich erzählt. Aus seiner Jacke holt er zwei Dosen, die mit einer Schnur verbunden sind. „Das hatte ich damals daheim, als mir die Idee kam, Sachen zu tauschen.“

Damals, das war im April dieses Jahres, und die Idee, Sachen zu tauschen, entstand, weil Philipp ausprobieren wollte, ob das „beste Geschäftskonzept aller Zeiten“ tatsächlich funktioniert. Ein beliebiger Gegenstand, eine beliebige Dienstleistung oder sogar eine Lizenz wird gegen irgendetwas anderes getauscht. Etwas von höherem Wert, im besten Falle. 

Diese Idee ist nicht neu. Auch Philipp kannte die Geschichte von Kyle MacDonald, einem 25-jährigen Kanadier, der, angefangen bei einer überdimensionalen roten Büroklammer, ein Haus im kanadischen Kipling ertauschte, in dem er jetzt mit seiner Freundin lebt. Ein Jahr und 14 Tauschgeschäfte hat er dazu benötigt. Das Konzept, das derzeit in Form von MacDonalds Buch „One Red Paper Clip“ um die Welt geht, wurde auch in Deutschland schon kopiert. Der Student Max Raschke aus Osnabrück beispielsweise besitzt mittlerweile ein Cabrio.

Eine Eigentumswohnung in München für sich selbst hatte Philipp sich noch vor dem eigentlichen Projektstart einmal als Ziel gesetzt. Aber dann sei ihm aufgefallen, wie gut es ihm eigentlich geht und wie wenig er eine eigene Wohnung wirklich brauchen würde. „Ich meine, ich kann in irgendein Café gehen und mir was bestellen. Ich lege einen Geldschein aus Papier auf den Tisch und gut. Das kann sich nicht jeder leisten.“ 

Vielleicht wurde dieser altruistische Sinneswandel durch die Erzählungen eines Syrers beeinflusst, den Philipp während eines Sprachkurses in Bulgarien kennengelernt hatte. „Der hat mir Geschichten erzählt, die will man nicht hören“, sagt Philipp und blickt nachdenklich auf seine Hände, „da würde ich schon gerne helfen. Aber das geht eigentlich nur effektiv, wenn man wirklich viel Geld hat. Und das habe ich nicht.“ 

Dietmar Hopp sei sein Vorbild, sagt er. Der 1940 in Heidelberg geborene Unternehmer gilt als einer der reichsten Deutschen, und seine Stiftung unterstützt gemeinnützige Projekte vor allem in der Rhein-Neckar-Region. Philipp stammt aus Walldorf, einer kleinen Stadt in der Nähe von Heidelberg, und die Menschen dort hätten sehr von Dietmar Hopps Unterstützung profitiert. Neben Philipps Realschule gab es eine soziale Einrichtung der Stiftung „Anpfiff Leben“. Mit 17 Jahren hatte Philipp sogar einen Brief an Hopp geschrieben. Mit der Frage, wie man denn so erfolgreich werden könnte. „Ich war damals noch sehr jung, aber ich wollte die Gesellschaft irgendwie effizienter und smarter machen“, sagt Philipp. Auch wenn er sich nicht mehr an den genauen Wortlaut erinnern kann, weiß er noch, dass Hopps Antwort „sehr nett und persönlich“ war und lange Zeit als Motivation in Philipps Kinderzimmer hing.

Wenn Philipp sagt „ich wäre gerne erfolgreich“, dann klingt das nicht nach Münchner BWL-Student, der von Manager-Boni träumt, sondern einfach wie die objektive Erkenntnis des Zusammenhangs zwischen Geld und den Möglichkeiten, die es eröffnet. Er hätte gerne das Geld, um Dinge bewegen und zum Besseren verändern zu können. Aber dieses Geld hat er nicht.

Allerdings ein Dosentelefon, das hatte er. Damals im April. Oder besser: die Zutaten für ein Dosentelefon – zwei leere Dosen von den Kidneybohnen für das Chili vor ein paar Tagen und eine Schnur. Und dann noch den Mut und die Freude am Experimentieren, einfach auf die Straße zu gehen, und zu versuchen, dieses selbst gebastelte Kommunikationsmittel an den Mann oder die Frau zu bringen. Das hat er auch geschafft. Einen Friseurgutschein im Wert von 95 Euro hat er schon getauscht und wieder vertauscht. Mittlerweile befindet sich der Tauschwert bei 800 Euro, in Form eines handgefertigten, individualisierbaren Rucksacks.

Am Ende der Kette steht jetzt ein Haus für Flüchtlinge. Das wäre der „Traum“, sagt Philipp. „Ziel“ möchte er nicht sagen, weil das „gleich so fest“ klinge. Aber das Aufregende an seinem Tauschprojekt sei das Unvorhersehbare, das Abenteuerliche. Und hier ist er auch wieder der kleine Junge, der gerne spielt. Streiche, aber auch ein bisschen Theater. „Ich finde es super, die Reaktionen der Leute auszutesten, wenn sie auf der Straße einfach so angequatscht werden und ihnen ein Baby-Gipsabdruck-Set zum Tausch angeboten wird. Ich habe da auch keine Scheu.“

Dass er mit seinem Dosentelefon
keinen Krieg beenden wird,
ist Philipp bewusst

Seiner Familie hat er noch gar nichts von seinem Projekt erzählt. „Ich habe immer so viele Ideen. Das wissen die schon. Aber ich will diesmal nichts erzählen, bevor ich nicht wirklich etwas erreicht habe. Ich will nicht, dass es nur eine Idee bleibt“, sagt Philipp und ist auf einmal sehr ernst und sehr ruhig.
Deshalb geht er das Ganze auch sehr professionell an. Das, was er in seinem Studium lernt, hilft ihm dabei. „Der knallharte BWLer“ in ihm würde manchmal schon gerne die Zufälligkeit seines Vorhabens berechnen und vorhersagen. „Ich schreibe sehr gerne Excel-Tabellen und Listen.“ Er lacht nach diesem Satz. Schelmisch.

Auch die Vermarktung beziehungsweise das Finden neuer, potenzieller Tauschpartner will er mittlerweile nicht mehr dem Schicksal oder seiner Überzeugungskraft auf der Straße überlassen, denn es vergeht kein Tag, an dem er nicht darüber nachdenkt, wie er schneller und besser vorankommen könnte.

Facebook hat er persönlich zwar lange Zeit nicht genutzt, aber jetzt, für sein Projekt, hat er wieder einen Account und eine Seite (www.facebook.com/dasdosentelefon) erstellt. Dort wird man auf seinen Blog weitergeleitet und kann sich über den Tausch-Stand informieren. „Hochtauschen gegen Krieg“, ist der Titel. Philipp erzählt dort die Geschichte seines Telefons und ruft dazu auf, ihn bei seiner Tauschjagd nach dem Haus zu unterstützen.
„Ich denke nicht mehr nur von vorne nach hinten, sondern frage mich auch schon, was Immobilienbesitzer so gerne besitzen würden, dass sie dafür eines ihrer Häuser hergeben würden“, erklärt Philipp. Gefragt habe er schon einen und der habe von seiner Leidenschaft für Aston Martin-Autos berichtet. Also wird Philipp wohl bald bei Aston Martin vorbeischauen und fragen, ob man sich dort auf einen Tausch einlassen würde.

Philipp kann sich keinen Tauschbesitz vorstellen, mit dem es nicht weitergehen könnte. Die „Notlösung“, sollte tatsächlich gar kein Tausch mehr zustande kommen, wäre, den Gegenstand zu verkaufen und den Erlös zu spenden. Dass er mit seinem Dosentelefon keinen Krieg beenden wird, wie der Name seines Blogs kühn verkündet, ist Philipp bewusst. Aber einen kleinen Beitrag dazu möchte er leisten.

Weitere Infos: https://www.facebook.com/dasdosentelefon?fref=ts

Foto: Schiwani Kakor