Band der Woche: LVNG

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Die Band The Living nennt sich jetzt LVNG und zieht ein eindeutiges Selbstbewusstsein aus der Wandlung. Am Samstag, den 14. April werden die Münchner mit einem Konzert im Strom ihre neue EP “Kimono” veröffentlichen.

Mit den Vokalen verschwand bei der Münchner Indie-Band The Living auch die Unschuld. LVNG  nennen sie sich jetzt und eigentlich ist das nun auch eine völlig andere Band als die liebliche Indie-Pop-Folk-Band, die sich die vergangenen drei Jahre unter dem ursprünglichen Namen eine Karriere erspielte, die wirkte, wie für eine deutsche Vorabendserie geschrieben: Zwei Geschwisterpaare plus ein Gitarrist aus dem Münchner Umland spielen seit Jugendtagen zusammen; wunderschön, liebenswert und ein bisschen spießig. Ja, aber diese Unbedarftheit ist wie gesagt mit den Vokalen verschwunden.

Jetzt ist man hip, am Puls der Zeit, der Vorstadt entflohen und hoffentlich im „Kosmopolitischen“ und in den „pulsierenden Großstädten“ angekommen, wie es der Pressetext zur neuen EP „Kimono“ verspricht. Auch wenn die Idee mit den fehlenden Vokalen schon ein bisschen älter ist. Das begann bei den Hip-Hoppern vor weit mehr als zehn Jahren, die Hipster folgten wenig später. Mit der Musik von LVNG ist da im Vergleich Spannenderes passiert. Denn die wurde von Musikern der einstigen Münchner Hochglanz-Pop-Hoffnung Claire produziert. Nun ist sie kaum wiederzuerkennen. Als hätte man die Songs, die früher von sanften Keyboards, einer Akustik-Gitarre und der schon damals beeindruckend souligen Stimme von Sänger Karlo Röding getragen wurde, völlig digitalisiert. Die Klangflächen pumpen sich in Dubstep-Manier voran, als hätten sie Schluckauf, Karlos Gesang ist fragmentiert darüber gesetzt und die Backgroundstimmen wurden mittels Autotune ordentlich robotisiert. Ja, als das anfing, dass man Vokale aus Bandnamen wegließ, befand sich der Gebrauch von Effekten wie Autotune oder Vocodern gerade an der Grenze vom billigen Mainstream-Popmittel zum subversiven Underground-Sound. Denn diese digitalen Stimmwandler klangen, vor allem, wenn man sie überdosierte, schlicht ultra geschmacklos. Man hatte noch Chers späten Neunzigerjahre-Hit „Believe“ im Ohr und noch nicht genug Distanz dazu, um diesen schon wieder cool zu finden, dass es wie die ultimative Auflehnung gegen das popkulturelle Establishment erschien, solche Klänge in Underground-Produktionen zu benutzen. Seit Längerem erlebt Autotune, spätestens seit dem derzeitigen Erfolg von Haiytis Album „Montenegro Zero“, wieder eine Renaissance im Mainstream.

Ein bisschen machen also die zu LVNG umgestylten The Living den Eindruck, als würden sie all diese ehemaligen Subkultur-Codes, die es in den Mainstream geschafft haben, an sich nehmen und zu einer hyper-hippen zeitgenössischen Popästhetik verquirlen wollen. Eine solche Herangehensweise ist nicht ganz ungefährlich, zumal LVNG damit ihr einstmals größtes Gut, ihre Natürlichkeit, mit der sie sich hartnäckig beibrachten immer bessere Songs zu schreiben, verabschieden. Denn man hört der Musik, die sie als vorerst nicht im Netz verfügbare, rein physikalischen EP am Samstag, 14. April, im Münchner Strom veröffentlichen, an, dass der Style wichtiger ist als alles andere. Doch die Band zieht ein eindeutiges Selbstbewusstsein aus ihrer Wandlung, auch wenn Musik und Stil weniger die Speerspitze als das derzeit Etablierte der Popmusik sind.

Foto: Andreas Strunz

Text: Rita Argauer

Band der Woche: Nils Kugelmann Trio

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Weich dahinlaufender Gitarren-Jazz mit einem präsenten Kontrabass und einem swingend-zischenden Schlagzeug – so klingt das Nils Kugelmann Trio. Am Sonntag, 8. April tritt das Trio im Jazzclub Unterfahrt auf.

Jazz war einmal Rebellion. In den Vierziger- und Fünfzigerjahren swingte der Jazz gegen die Strenge der klassischen Interpretation. Mit Miles Davis und John Coltrane kam später dann eine Prise verdrogter Anarchismus und musikalisch umwerfender Irrsinn hinzu und Jazz gehörte wohl mit zum Freiesten, was die Musiklandschaft zu bieten hatte. Und wie das so ist, wurde es nach diesem Zenit akademischer. Klar, es gab sie auch später noch, diejenigen, die experimentierten. Aber generell wurden Jazz-Platten etwa in München eher im Edelkaufhaus Ludwig Beck verkauft als in irgendwelchen abseitigen Plattenläden. Und das sagt schon viel über die Klientel, die diese Musik nun als gediegen intellektuelle Untermalung ihres Lebens nutzten. Doch seit einigen Jahren reißt sich eine neue Jazz-Generation davon los. Und zwar, in dem sie die Nähe zum eigentlich verpönten, weil im Vergleich zum Jazz so ungemein viel einfacheren Pop sucht. Sei es die Münchner Gitarristin Monika Roscher und ihre Bigband vor ein paar Jahren. Oder aktuell Siea, ebenfalls eine groß aufgestellte Truppe aus dem Umfeld der Münchner Musikhochschule, die Jazz, Trip-Hop und elektronische Musik verquicken. Jazz wird in der Nähe zu Elektro und Techno hip, das zeigt auch das LBT, kurz für Leo Betzl Trio.

Diese klassische Jazz-Band-Nomenklatur nutzt auch das Nils Kugelmann Trio. Die Musiker um den 21-jährigen Bassisten und Komponisten Nils Kugelmann, der Schlagzeuger Marius Wankel und der Gitarrist Philipp Schiepek, sind so etwas wie die Küken dieser Szene. Und gleichzeitig die Ältesten. Zumindest musikalisch. Denn Kugelmann, der aktuell bei Henning Sieverts an der Münchner Musikhochschule Kontrabass studiert, komponiert für seine Musiker richtiggehend old-school. Weich dahinlaufender Gitarren-Jazz mit einem präsenten Kontrabass und einem swingend-zischenden Schlagzeug, der perfekt in den Jazzclub Unterfahrt passt, wo sie auch zuletzt aufgetreten sind. Doch Nils hat die ganze Pop-Sozialisation schon hinter sich. In München kennt man ihn vielleicht noch mehr unter seinem Künstlernamen Deebex. Darunter veröffentlichte er elektronische Experimente, die eindeutig im Pop-Club verortet waren. Da spielte er live Klarinette, vermischte Computermusik mit akustischen Klängen und zwang seinen Eklektizismus dennoch in ein hymnisches Popgewand. Mit seinem Jazz-Trio ist das nun alles eindeutiger. Hier spielt er Jazz, er wirkt erwachsener und gereifter, springt nicht mehr innerhalb der Songs mehrfach zwischen den Stilen hin und her, sondern sucht in der festgeschrieben Form einen eigenen originären Ausdruck.

Musikalisch sei sein Ziel, „eine grenzenlose, ästhetische und freie Musikauffassung“, zu finden, die die „Trennung der Musik in verschiedene Genres“ vergessen lässt und in ihrem „Innersten als Musik selbst“ wahrzunehmen ist. Natürlich wirkt Nils mit diesem Wunsch, anzukommen, enorm frühreif. Doch rein musikalisch ist es spannend, was er da versucht. Denn egal ob Pop oder Jazz, Musik hat sich in der vergangenen Dekade immer über die Vermischung verschiedener, bereits bekannter Stile neu erfunden. Viel seltener wurde versucht, einen bereits bekannten Stil an sich weiter zu entwickeln. Über die Bandarbeit, – die Nils dabei ausgesprochen wichtig ist, denn er komponiere zwar die Musik, seine Mitmusiker sollen die sich in der Ausarbeitung aber zu eigen machen, sagt er –, versucht er genau das. Das gemeinsame Suchen nach etwas Eigenem in einem bekannten Stil ist zwar oft viel mühsamer als der schnell wirksame Clash verschiedener Genres. Aber diese Arbeit kann sich längerfristig auszahlen. Am Sonntag, 8. April, tritt das Trio im Münchner Club Unterfahrt auf.  

Foto: Enkhjargal Erkhembayar

Text: Rita Argauer

Neuland: Stray Colors Album-Release

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Nach langen sechs Jahren ist es im Mai endlich soweit: Die Stray Colors veröffentlichen ihr Debüt-Album mit einem Release-Konzert in der Milla.

Vor sechs Jahren veröffentlichte die Münchner Folk und Balkan-Pop Band Stray Colors ihre erste EP. Seitdem ist viel passiert: Die Wahl zur Band des Jahres der SZ im Jahr 2012, ihr Song „Moonlight Ride“ wurde bei verschiedenen Radiosendern gespielt, aber auch Wechsel der Bandmitglieder hat es gegeben. Es sei deshalb nicht einfach gewesen, ein gutes Bandgefühl zu entwickeln. „Gerade fühlt es sich wieder richtig gut an“, sagt Sänger Rüdiger Sinn. So gut, dass nun das Debüt-Album „Atomic Bombs and Pirouettes“ entstanden ist. Am 20. Mai soll es bei einem Release-Konzert in München in der Milla veröffentlicht werden. „Wir haben im Januar beschlossen, das Album zu machen, sind im Februar ins Studio, jetzt sind wir durch. Wir hatten einen guten Drive. Den wollten wir einfangen und bewusst auf langes Rumdoktoren verzichten“, sagt Rüdiger.
Der Titel des Albums zielt auf die Ambivalenzen dieser Welt: einerseits viel Wärme, andererseits auch viel Beängstigendes. Musikalisch ist das Album ist eine Rückkehr zu den Wurzeln der Band. „Nach Jahren der Experimente erlauben wir uns, wieder schlicht und organisch zu klingen“, sagt Rüdiger.

Foto: Niklas Keller

Text: Ornella Cosenza

Band der Woche: KLIMT

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Am 23. März stellt KLIMT ihre neue Platte im Lost Weekend vor. Goldtupfer, grafischer Schmuck und fließende Kleider verwandeln die Musikerin Verena Lederer in eine Kunstfigur. Auf ihrem Debüt-Album 

„Dear Sirens“ taucht der Hörer in eine Welt ein, 

die von der morbiden Eleganz Wiens zu Zeiten des Fin de Siècle geprägt ist.

In der Zusammenarbeit von Andy Warhol mit Velvet Underground hat sich wohl zum ersten Mal das gezeigt, was sich später Art-Pop nannte; also Pop-Musik, die um diesen gewissen Grad künstlicher ist und inszenierter ist, als das etwa bei Rockmusik der Fall ist. Klar, man darf das nicht unterschätzen: Die Rockgesten, die Haarspray-Frisuren, die zerrissenen Punk-Hosen und all der Weltschmerz sind ebenfalls eine große Inszenierung, ein Markenzeichen und eine Bühnenschau. Doch der Unterschied liegt in der Haltung der Künstler dazu: Denn selbst die von Vivienne Westwood durchgestylten Sex Pistols kamen mit der Einstellung auf die Bühne, hier authentisch den Umsturz zu fordern. Oder die eigene Großartigkeit zu besingen (etwa im Fall von Guns ’n’ Roses) oder sich im eigenen Schmerz zu weiden (im Fall von Nirvana). Authentizität wird hier – trotz aller Inszenierung – hochgehalten. Bei Velvet Underground war das anders. Aber aktuell bei Björk etwa auch: Natürlich verhandeln diese Musiker auch Themen, die sie persönlich betreffen. Aber sie borgen sich die Haltung der Bildenden Künstler dafür: Auf der einen Seite das Kunstwerk, auf der anderen der Künstler – und dazwischen ist ein Unterschied, was aber nicht heißt, dass Kunstwerk und Künstlerpersönlichkeit nicht verbunden wären.

Die Münchner Musikerin Verena Lederer alias Klimt  hat sich einen wesentlich älteren Bildenden Künstler als ästhetischen Überbau gesucht: Gustav Klimt. Dessen weiblichen Jugendstil-Wesen, die mystisch und gleichsam real sind, die keusch und gleichsam sexy wirken, dienen Verena allein äußerlich als Vorbild. Ihre Corporate Identity ist durchgeplant, fließende Kleider, Goldtupfer und grafischer Schmuck, all das verwandelt sie als Musikerin in eine Kunstfigur. Und die lädt die Hörer auf ihrem Debüt-Album „Dear Sirens“ in eine Welt ein, die von der morbiden Eleganz Wiens zu Zeiten des Fin de Siècle geprägt ist. Doch wer da Salonwalzer-Klänge oder dergleichen erwartet, wird enttäuscht. Denn Verena ist klug genug, diese äußere Haltung auf ganz und gar zeitgenössische Musik zu transferieren.

Zusammen mit Markus Sebastian Harbauer, der auch Bass bei Exclusive spielt, hat Verena ein Album produziert, dem ihre Wurzeln als Songwriterin kaum noch anzuhören sind. Denn hier wird eigenständige Musik auf einem Niveau produziert, das eher an Feist als an Silbermond denken lässt. Klanglandschaften, Soundscapes, elektronisches Geblubber und alte Synthesizer dominieren die musikalische Ästhetik. Darauf arbeitet Verena mit ihrer Stimme ebenso experimentell: Mal klingt sie nur wie ein vorbeiziehender Hauch. Mal überträgt sie den Inhalt ihrer Texte auf die Komposition, wie etwa in „My only enemy“. Hier erklärt sie sich selbst zu ihrem einzigen Feind, dementsprechend doppelt sie ihre Stimme im Song, hier singen zwei Verenas gegeneinander an, nur um sich im zweiten Teil des Liedes zu neuer Kraft zu vereinigen. 

Solche Tricks sind schon ziemlich klug und graben tief. Die Musik, die auf den ersten Blick eben oberflächlich sehr durchgestylt wirkt, zwirbelt sich mit innerer Logik auf tieferen Ebenen fort. Was dabei herauskommt, ist dann alles eher dunkel, eher ein bisschen morbid und handelt von Ängsten und Zwängen. Und trotzdem trägt das eine entrückte Eleganz in sich. Wie eben auch Gustav Klimts Bilder, etwa dessen schillernde Judith mit dem Kopf von Holofernes, der aber völlig unwichtig am Bildrand klebt. Ein halbes Jahr haben Verena und Markus im Studio an den acht Songs gearbeitet. Das ist keine dahingeworfene Produktion. Die Künstler wollen mehr mit dieser Platte, die am Freitag, 23. März, mit einer Party im Münchner Lost Weekend vorgestellt wird.

Foto: Sophie Wanninger
Text: Rita Argauer

Band der Woche: Cat & the Kings

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Das Album von Cat & the Kings ist wunderbar ausgewogen und bekommt Tiefe und Glanz durch bedachte Details in den Arrangements. In den Songs geht es um die Höhen und Tiefen des Lebens, mit denen sich jeder konfrontiert sieht.

Es ist erstaunlich, dass es so viele Musiker gibt, die sich als Singer-Songwriter sehen und sich mit der Akustik-Gitarre begleiten – und an diesem Punkt stehen bleiben. Nicht, weil man auf Akustik-Gitarren nicht wunderbare Songs schreiben könnte. Sondern, weil es bei vielen Songwritern so wirkt, als würde die Musik dabei in einem Zwischenstatus steckenbleiben. Die Harmonien sind an der Gitarre gefunden, der Text ist melodiös darauf gesetzt. Aber eigentlich fängt ja jetzt die Arbeit erst an, aus diesem Gerüst einen Song zu bauen, die Leerstellen mit Stil und Ideen anzufüllen und dann eine wie auch immer instrumentierte Musik zu präsentieren. Es gibt talentierte Glückskinder, denen reicht Gitarre und Gesang aus, um daraus mitnehmende Musik zu machen: den Surfer-Boy Jack Johnson oder den Hipster-Waldschrat Bon Iver. Doch es gibt auch viel Songwriter-Musik, deren Potenzial in der bloßen Besetzung aus Gitarre und Stimme nicht ausgeschöpft ist und die Musik eben beliebig und gleichsam provisorisch klingt.

In dieses Gefahrenfeld begibt sich Conny Merritt nicht. Die Münchner Musikerin, die an der Berufsfachschule für Jazz und Pop lernte, weiß genau, wann ein Song trägt. Das ist auf ihrem ersten Album „The Great Unexpected“, das sie 2017 mit ihrer Band Cat & the Kings  veröffentlicht hat, deutlich hörbar. Denn Conny und der Schlagzeuger Aron Hantke, Lorenz Huber am Bass und der E-Gitarrist Sebastian Heim haben da ein wunderbar ausgewogenes Album veröffentlicht, das zunächst nach klassischer Songwriter-Musik klingt, aber Tiefe und Glanz erst durch die bedacht gesetzte Detailarbeit in den Arrangements bekommt. Hier schreiben Menschen Musik, die sich nicht mit dem Offensichtlichen – man hat ein schönes Gitarren-Riff und eine gute Melodie darauf – zufrieden geben. Das Quartett beginnt an diesem Punkt zu arbeiten: „Es ist bei uns wirklich so, dass sich die Stile mischen und etwas Neues ergeben“, erklärt Conny, als sei ihr das fast unangenehm. Doch dass sich auf diesem Album Songs finden, wie etwa der Titeltrack „The Great Unexpected“, die trotz der weichen und Jazz-geschulten Stimme von Conny, trotz der folkig dahinplätschernden Drums und des beinahe funkigen Basses, die Dringlichkeit von Grunge-Songs in sich tragen, ist bemerkenswert.

„Vieles sind Themen, mit denen sich jeder konfrontiert sieht, wie das Leben eben so ist mit seinen Höhen und Tiefen, Erkenntnissen, Enttäuschungen, Freuden und Leiden“, sagt Conny; da sie aber mit einer chronischen Krankheit lebe, hinterfrage sie zwangsläufig mehr und nehme nicht alles für selbstverständlich an. Vielleicht sind es solche Erfahrungen, die ihre Musik aus dem typischen Songwriter-Sumpf hinausheben. Vielleicht ist es aber auch nur ein besonderes Gespür für die Musik, sich eben nicht mit dem erstbesten Einfall zufrieden zu geben. So haben sich Cat & the Kings für ihr nächstes Album auch eine neue Herausforderung gesetzt: Sie wollen noch mehr in die akustische und unverstärkte Richtung gehen, etwa mit einem Kontrabass anstelle des E-Basses. Das bedeutet jedoch auch, auf so einfache musikalische Stilformer wie Sounds und Effekte zu verzichten, was es schwieriger macht, einen Song interessant zu machen. „Aber gutes Songwriting in der Tradition à la Neil Young und den Beatles mit eben den ganzen Einflüssen, die man so hat, vor allem wenn man viel Musik hört und selbst auch viele Musikstile spielt, das ist unser Ziel“, erklären sie. Es ist hochgesteckt, dürfte aber bei der Präzision, mit der die Musiker die bisherigen Songs arrangiert haben, auch spannend werden.

Foto: Julia Göltl
Text: Rita Argauer

Band der Woche: Die Prokrastination

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In den Songs von Die Prokrastination geht es um aktuelle Themen wie albern betitelte Trends oder Hipster. Verpackt sind die Themen in liebreizenden Poprock-Klängen. Insgesamt erzeugt die Musik eine Euphorie zum Mitsingen.

Der Vorwurf der Ichbezogenheit ist Künstlerpersönlichkeiten gegenüber schnell ausgesprochen. Und auch wenn man immer vorsichtig sein sollte mit schnellen Urteilen, ist das in vielen Fällen wohl gar nicht so falsch. Denn um sich auf eine Bühne zu stellen und a priori davon auszugehen, dass die Menschheit um die eigenen in Kunst gegossenen Ansichten wissen möchte, das setzt eine Persönlichkeit voraus, die diesen Gedanken mit sich vereinbaren kann. Ein bisschen lässt sich so etwas auch an den Texten der Künstler nachverfolgen. Etwa Patrick Wagner, einst Sänger der deutschen Noise-Rock-Pioniere Surrogat. Der machte seine Ichbezogenheit offensiv zum großen Thema seiner Kunst.

Und selbst jetzt, gute 20 Jahre nach Surrogat, wenn Wagner mit seiner neuen Formation Gewalt auftritt und in seinen Texten plötzlich erstaunlich oft das Wort „Du“ vorkommt, wird man das Gefühl nicht los, dieses Du richtet sich wieder an ihn selbst. Er hat seine groß aufgebaute Persönlichkeit quasi aufgespalten und begibt sich künstlerisch in den Dialog mit sich selbst.

Auch in den Texten der Münchner Band Die Prokrastination kommt im Song „Mainstream“ ein ausgesprochen starkes „Du“ vor. Diesem wird zu schmissigen Poprock-Klängen dabei langweilige Mittelmäßigkeit vorgeworfen – und zwar ziemlich drastisch und unmissverständlich aus der Warte des unkonventionellen Künstlers heraus. Wäre das nicht in so ausgesprochen liebreizende und bekömmliche Musik verpackt, wäre das von Surrogat gar nicht so weit entfernt. Doch musikalisch ist der Gegensatz groß, in dem sich das Quartett um Sängerin und Gitarristin Katharina „Katha“ Gulde ästhetisch bewegt. Sie beschweren sich über zwischenmenschliche Unverlässlichkeit („Happy End“), über eine Social-Media-getrimmte Menschheit, die albern betitelten Trends, die man eigentlich unter anderem Namen schon kennt, hinterherrennt („Bikram Yoga“), oder nehmen verspielt die Vorurteile und Blaupausen vermeintlich urbaner Hipsterness auseinander („Sorry Baby“). Die Musik dazu aber besteht aus beschwingten und leicht verzerrten Dur-Akkorden und erzeugt eine allgemeine Mitsing-Euphorie.

„Punk kann als Ausdruck von intensiven Gefühlen, als wütende Stimme, als rebellischer Gegenpol zu festgefahrenen Strukturen auch 2018 aktuell und inspirierend sein“, erklären sie, doch: Punk könne auch schnell „veraltet oder satirisch wirken, wenn er zu plakativ gelebt wird“. Deshalb versuche man mit Die Prokrastination mehr eine innere Haltung zu finden als „typische Punk-Attitüden nach außen zu tragen“. Der Mittelweg, auf den sich die Band, die seit eineinhalb Jahren zusammenspielt, damit begibt, ist aber auch kein leichter. Denn die eigene Antihaltung zerbricht bisweilen an der Zugänglichkeit der Musik. Andererseits sind das gut geschriebene Songs, die wohl ein ungleich größeres Publikum erreichen könnten als etwa Patrick Wagner mit Gewalt und deren Anti-Musik-Attitüde. Von der Gefahr zu einer so plakativ rockistischen Anbiederung zu werden, wie das etwa Jennifer Rostock sind, ist Die Prokrastination jedoch noch ein gutes Stück entfernt. Schon allein, weil in der Musik Indie-Geist und feine Intellektualität mitschwingen, die allzu große Stadion-Poprock-Gesten unterbinden. Die ist zwar nicht ganz so sperrig-studentisch, wie das bei Marv Paul, der früheren Band von Bassisten Gregor
Poglitsch, der Fall war. Im Moment hält sich die Balance zwischen Zugänglichkeit und Kritik bei Die Prokrastination aber sehr gut. Gerade arbeiten sie an einem ersten Album. 

Stil: Pop/Rock
Besetzung: Katharina Gulde (Gesang, Gitarre), Michael Kara (Gitarre, Gesang), Raphael Brunner (Schlagzeug), Gregor Poglitsch (Bass)
Aus: München
Seit: 2016
Internet: www.facebook.com/dieprokrastination

Text: Rita Argauer


Foto: Christin Büttner

Band der Woche: LCAW

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Seine Mutter und seine Schwestern sind in der Klassik unterwegs, aber Leon Weber alias LCAW zieht es in eine andere Richtung. Früher war der Musiker als House-DJ bekannt, nun wagt er sich mit Eigenkompositionen in die Popwelt vor.

Das Wort frühreif wird oft negativ verwendet. Man stellt sich einen Streber vor, der trotz geringer Erfahrung alles besser weiß und altklug kommentiert. Der Münchner Musiker, Produzent und DJ Leon Weber, alias LCAW, zeigt jedoch eine Art der frühen Reife, die ziemlich beeindruckend ist. Der 23-Jährige, der als House-Remixer von Indie-Tracks schon vor vier Jahren international bekannt wurde, veröffentlicht nun Ende März mit „Meet me in the Middle“ seine erste EP mit eigenen Tracks. Für die erste Single „Hummingbird“ konnte er die britische Sängerin Sophie Ellis-Bextor als Gast gewinnen. Die ist 38 Jahre alt und hatte 2001 mit „Murder on the Dancefloor“ ihren ersten Nummer-1-Hit. Dennoch hat man hier nicht das Gefühl, dass eine gesetzte Sängerin sich mit jugendlichem Produzenten verjüngen möchte oder dass ein junger Musiker versucht, den Stil eines erwachsenen Stars zu kopieren. In „Hummingbird“, einer leichfüßigen Disco-House-Nummer, treffen zwei Musiker auf gleicher Höhe aufeinander, auch wenn sie 15 Jahre Erfahrung trennen.

„Manchmal schreibe ich ein Lied und habe direkt eine Stimme im Kopf, die perfekt dazu passen würde“, sagt Leon. Als er an seiner EP arbeitete, war das mit der Stimme von Sophie Ellis-Bextor der Fall. Doch weil Leons Remixes eben da schon international erfolgreich liefen, befand sich der junge Musiker in der glücklichen Lage, die Person hinter der Stimme, die er im Kopf hatte, auch ganz reell anfragen zu können. Aufgenommen wurde der Song dann in einem Londoner Studio, in dem auch schon James Blunt oder Adele gearbeitet hatten. Herausgekommen ist eine ziemlich zugängige Pop-Nummer, deren Produktion reif und gesetzt wirkt. Da komponiert jemand, der sich handwerklich und stilistisch sehr sicher ist – obwohl das, neben ein paar Singles, das erste Mal ist, dass Leon mehrere selbstgeschriebene Songs gebündelt veröffentlichen wird. Für Leon ist dieser Song dabei auch der Beginn einer neuen künstlerischen Richtung. Man hört zwar seine Anfänge als House-Remixer durch, doch „Hummingbird“ ist ein richtiger Popsong, den er als „eine moderne Art von Disco und Funk“ beschreibt. Es hat in Leons Karriere allerdings ein bisschen Zeit gebraucht, bis es zu so einer Zusammenarbeit und dieser stilistischen Positionierung kommen konnte. Während er in seinen Remixes immer das musikalische Material anderer Künstler weiterverarbeitete, hat er hier selbst komponiert. Um damit in die Öffentlichkeit zu gehen, wollte und musste er sich sicher sein.

Schon 2014, als seine Laufbahn als DJ und Remix-Produzent bereits internationale Kreise zog, arbeitete er an Original-Tracks, also an Eigenkompositionen. Doch bis er diese für gut genug befand, um sie zu veröffentlichen, dauerte es. Da schwingt ein ziemlich hoher Anspruch an die eigene Musik durch, der vielleicht auch daher kommt, dass Leon von frühester Kindheit an mit klassischer Musik konfrontiert war. Seine Mutter und seine beiden Schwestern sind Berufsmusikerinnen in der Klassik. Leon selbst spielt Klavier und Cello, gewann den Wettbewerb „Jugend musiziert“ und spielte im Bundesjugendorchester. Für eine Karriere in der Klassik habe ihm das permanente Üben jedoch zu wenig gelegen, erklärt er. Sich aber in der Musik fest zu beißen, lange an etwas zu arbeiten und zu feilen, das ist – neben dem musikalischen Grundverständnis – wohl etwas, was er aus der klassischen Ausbildung mitgenommen hat. Gleichzeitig befähigt ihn nun genau das, Songs zu produzieren, die trotz seines Alters auf dem internationalen Pop-Markt bestehen können. 

Stil: Pop/House
Besetzung:
Leon Weber (Komposition, Produktion)
Seit:
2013
Aus:
München
Internet:
www.lcawmusic.com

Text: Rita Argauer


Foto: Yunus Hutterer

Band der Woche: Lakedaimon

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Die Band
Lakedaimon ist rein besetzungstechnisch bereits bekannt: zusammengesetzt aus der “famosen Neo-Folk-Band Dobré”  geht es stilistisch nun aber in ein eine andere Richtung.

Die treibende Kraft der Popmusik ist der Stil, während in der Klassik die musikalische Idee als einmaliger Einfall hochgehalten wird. Doch dieser etwas konservative gedachte Gegensatz trifft nicht immer zu. Zum einen ist Stil, also der Klang und die Attitüde, wie etwa ein C-Dur-Akkord klingen kann, eine bisweilen ebenso kreative Leistung wie die Erfindung einer Melodie oder eines Arrangements. Zum anderen finden sich auch in der klassischen Musik höchst stilisierte Formen, die sich aus der erfindungsreichen Neukombination von harmonischem Material herausgelöst haben. Doch zurück zum Pop, denn dort gibt es wahre Meister des Stils. Allen voran Damon Albarn, der erstmals mit Blur den Britpop als Stil erfand, später mit den Gorillaz eine Comic-Band ersann, deren musikalischer Stil sich virtuos in die Comic-Ästhetik einfand, und dazwischen mit diversen anderen Projekten, etwa The Good, the Bad & the Queen oder zwei Opern sein musikalisches Einfallsreichtum wiederum spielerisch in verschiedenste Stile goss.

Die Münchner Szene hat mit Johannes Joe Dobroschke einen ähnlich talentierten Stil- und Kompositionsvirtuosen. Das Songschreiben lernte er an der Seite von Jacob Brass in ihrer ersten gemeinsamen Band Spotfin Soap. Nach der Auflösung entstand die famose Neo-Folk-Band Dobré, deren Kopf Joe bis heute ist. Dazwischen gab es das durchgeknallte Experiment Klaus, in dem Joe auf Deutsch singend eine Frühform von Elektro-Indie erfand, surreal wie ein verrückter Wissenschaftler. Und nun, kurz nachdem mit „Who killed the acrobat“ das dritte Album von Dobré erschienen ist, tritt mit Lakedaimon das nächste Projekt von Joe auf den Plan. Besetzungstechnisch gibt es da keinen großen Unterschied zu Dobré. Live wird Joe von seinen vertrauten Bandkollegen begleitet, die Songs, die auf dem Label von Ex-Anajo-Sänger Oliver Gottwald erscheinen, sind quasi ein Spin-Off des aktuellen Albums: „Zwischen dem zweiten und dritten Dobré-Album habe ich sehr, sehr viele Songs geschrieben, von denen einige aber irgendwie nicht mehr so recht zu Dobré gepasst haben“, sagt Joe. Das führt zurück zum Stil und zu Joes recht untrüglichem Gespür dafür. Denn: Sie hätten diese Lieder zwar auch live als Dobré ausprobiert, jedoch seien sie „düsterer, ernster, elektronischer und gleichzeitig poppiger“, sagt er. Ein anderer Stil also, der eine andere Band braucht, auch wenn die Musiker de facto die selben sind.

Um diesen neuen Stil auszuarbeiten, stand ihm auch Martin Brugger alias Occupanther zur Seite, der einige Spuren zu den drei nun fertig gestellten Songs hinzufügte. Die Grundproduktion aber stammt von Joe selbst. Er hat alle Instrumente eingespielt und bezeichnet Lakedaimon als eine Art „Solo- oder Nebenprojekt“. Getragen von seiner Stimme, die heroisch, aber verhallt zur ersten Single „Inhale / Exhale“, – diese erscheint am Freitag, 24. November – anhebt, dann aber von sanfter Elektronik unterbrochen wird und in ihren beinahe jazzigen Harmonien ein wenig an The Notwist auf dem Album „Shrink“ erinnert. Die Synthesizer-Spuren, die in den folgenden Songs noch stärker hervortreten, sind in Joes bisherigem Schaffen aber neu – viel kühler als die folkigen Orgeln und Klaviere bei Dobré. Gleichzeitig ist Lakedaimon aber auf eine gewisse Art zugänglicher, weil die aktuelle Popmusik immer noch stark von solchen Klängen geprägt ist. Doch das überraschendste ist die Sicherheit von Joe. Er klingt nicht so, als würde er sich in einem neuen Stil ausprobieren. Vielmehr schafft er mit untrüglichem Gespür Musik, die konsequent und reif klingt. Zum Stilbewusstsein gehört bei Joe auch ein Songschreiber-Talent, das ihn beinahe mühelos durch seine sämtlichen Projekte hindurch trägt.

Stil: Elektronik/Indie
Besetzung: Johannes Dobroschke (Songwriting, Gesang, Produktion)
Aus: München
Seit: 2017
Internet: www.facebook.com/lakedaimonmusic


Text: Rita Argauer

Foto: Dominik Wierl

Band der Woche: Matija

Ob die Vorstellung des Debüt-Albums im ARD-Morgenmagazin dem Coolness-Faktor Abbruch tut? Mit dem Video zu “White Socks” arbeitet die Alternative-Pop-Band jedenfalls eifrig dagegen: Prädikat “seeehr cool” – auch auf dem Sound Of Munich Now.

In den USA haben Late-Night-Shows ein irres Renommée. Wer als Musiker bei Jimmy Fallon, David Letterman oder bei „Saturday Night Live“ ein Album vorstellt, hat es geschafft. Längst sind die Youtube-Clips daraus legendär, etwa M.I.A. mit „Born Free“ und haltlos rüpelnder politischer Botschaft. Oder eine überaus elegante Beyoncé. Über lästige Promo-Auftritte sind diese Shows längst hinaus, vielmehr werden sie mittlerweile als eigenständiges Kunstwerk mit eigener Inszenierung der Künstler wahrgenommen – besonders, sehr exklusiv und sehr populär. So sehr, dass dort sogar Obama im Wahlkampf für Hillary Clinton sang.

Richtig schön bieder wirkt dagegen die Ankündigung, die Münchner Band Matija werde ihr Debüt-Album im ARD-Morgenmagazin präsentieren. Deutsche Indie-Bands im Frühstücksfernsehen, was soll das? Vor gar nicht langer Zeit hüpfte zwar der Schweizer Hipster-Schlagersänger Dagobert durch den Fernsehgarten, das hatte allerdings eine gewisse Konsequenz, immerhin klingt dessen Musik aufs erste Hören nicht viel anders als Helene Fischer. Aber Matija sind junge Männer, Anfang 20, die unter dem Namen The Capitols erste Bühnenluft schnupperten und nun mit „Are We An Electric Generation Falling Apart?“ ein Album vorlegen, das sie zum nächsten großen Pop-Ding der deutschen Szene machen soll. Doch ist die Generation, die hier auseinanderfällt, schon so zersprungen, dass das Frühstücksfernsehen ein geeigneter Ort für junge Musiker ist? Und sind die Hausfrauen und Pensionisten, für die dieses Format ursprünglich in grauer prä-emanzipierter Vorzeit erfunden wurde, das richtige Publikum? Eindeutig nein. Denn beim Hören werden bei Matija unverkennbar coolere Register dazu geschalten.

Breit drückende Synthies treffen auf ein hektisches, Hi-Hat-getriebenes Schlagzeug und eine stampfende Bassdrum. Sänger Matija Kovac singt darauf im Falsett, inspiriert von Bands wie den Editors, also den letzten elektronischeren Ausläufern des Britpops. Im Video zur Single „White Socks“ steigt Matija dann im schicken Schwarz-Weiß in einer Prestige-Karre einer kurz-berockten, jungen Dame nach, während das funkige Gitarrenriff, das durch den Song trägt, an den Signature-Sound des untergegangen Atomic Café erinnert. Hier wird bedient, was bedient werden soll, damit diese Musik funktioniert: Nämlich das extreme Gefühlsleben junger Menschen. Im einen Song gibt es junge Männer, die sich cool fühlen und Frauen, die sie deshalb anhimmeln. Im Nächsten steht die Frau dann als madonnengleiches Objekt der Begierde im Fokus, für das der junge Mann leidet und sich auch mal in den Dreck wirft („Song for Celine“). Die Musiker von Matija wissen dabei ganz genau, was sie tun. Die Erfahrung, die sie als Capitols gesammelt haben, äußert sich in pointiertem Songwriting und ausgeklügelten Arrangements. Diese Band will es wissen und kann es musikalisch umsetzen. Doch ein wenig mehr Überraschung und ein paar Kanten würden die Erfolgschancen vielleicht noch erhöhen. 

Stil: Pop
Besetzung: Matt Kovac (Gesang, Flöte), Jan Salgovic (Gitarre), Johann Blake (Keyboard, Bass), Sami Salman (Schlagzeug)
Aus: München
Seit: 2016
Internet: www.facebook.com/matija.world

Text: Rita Argauer

Foto: Rue Nouvelle

Pop und Popcorn

Marie Bothmer, 21, ist bei einer großen Plattenfirma unter Vertrag. Ihr erster Song ist auf dem Soundtrack von Cros Film „Unsere Zeit ist jetzt“ zu hören. Wie ihr das gelungen ist? Mit Ehrfurcht – und Vernunft.

Film ab: Mädchen blickt aus Zug, das Abteil ist leer. Draußen eine verregnete Landschaft. Der Regen prasselt laut gegen die Scheibe und eine einzelne, einsame Träne läuft der Protagonistin über die gerötete Wange. Aus dem Off ertönt Musik, langsam erst, dann lauter, leichtes Gitarrenspiel mit kleinen, traurigen Pianotüpfelchen und einer Frauenstimme, die mitten ins Herz trifft.

Diese Szene ist natürlich frei erfunden oder besser: angelehnt an diverse romantische oder melodramatische Filme, in denen ein einzelner Song das Tor zu sämtlichen ungeahnten Gefühlswelten öffnet. „Und ich wollte eben immer die sein, die zu so einer Filmszene den Song beisteuert“, sagt Marie von Bothmer. Sie sitzt in der Münchner Loretta-Bar, nippt an ihrem Cappuccino und unterscheidet sich in diesem Moment kein bisschen von den anderen Studentinnen in dem Lokal.

Marie ist 21 Jahre alt und hat ihr gewelltes, dunkelblondes Haar zu einem hohen Zopf gebunden. Die junge Frau mit den grünen Augen erzählt selbstverständlich und selbstbewusst von ihren Träumen. Die sind in jüngster Zeit in greifbare Nähe gerückt. Marie Bothmer, die für ihre musikalische Laufbahn auf das „von“ in ihrem Namen verzichtet, hat soeben ein Konzert von Andreas Bourani eröffnet, eine Open-Air-Show in Tettnang am Bodensee mit rund 3000 Besuchern. „Andreas hat meinen Song irgendwo gehört und mich dann als Vorband für einen Auftritt gebucht“, sagt Marie.

Das Lied, das Andreas Bourani hörte, heißt „Es braucht Zeit“, ein Song, der es vergangenen Herbst auf den Soundtrack von Cros Film „Unsere Zeit ist jetzt“ schaffte. Ein wichtiger Schritt für Marie Bothmer und ein Türöffner noch dazu. Im September 2016 unterschrieb sie einen Plattenvertrag
bei DolceRita, zwei Wochen bevor Cros Film in den Kinos startete. DolceRita gehört zur Warner Music Group und hat unter anderem Udo Lindenberg im Programm, ein richtiger Major-Deal also, und das, obwohl Marie damals erst einen einzigen Song in Planung hatte. „Es braucht Zeit“ ist ein einschlägiger, langsamer Pop-Song mit Hit-Potenzial, der von den lebenswichtigen Nichtigkeiten eines jungen Menschen handelt. „Ich war nicht ehrlich zu dir, ’ne weiße Lüge zu viel“, singt Marie mit klarer, aber durchaus spezieller Stimme. „Du hast mich so oft gewarnt und ich hab’s trotzdem gemacht. Deswegen rannte ich los, doch ich wusste nicht, wohin ich soll. Denn mein Ziel warst immer nur du.“

„Bereits beim ersten Hören der Demos war uns klar, dass wir diese junge Frau unter Vertrag nehmen müssen und dass eine erfolgreiche Karriere auf sie wartet“, sagt Rita Flügge-Timm, Chefin von DolceRita Recordings, und wirbt weiter für ihre neue Künstlerin: „Marie ist eine außergewöhnliche, zielstrebige junge Frau, deren Stimme uns bis ins Mark berührt und die einen unglaublichen Wiedererkennungswert hat – auch in ihrer Textwelt, in der wir uns alle wiederfinden.“

Mehr als 860 000 Mal wurde „Es braucht Zeit“ mittlerweile auf Youtube angeschaut, auf Spotify hat es fast die Millionenmarke geknackt. Vor rund zwei Monaten hat Marie Bothmer nun ihren zweiten Song „Gewinner“ veröffentlicht. „Wir wollen Gewinner sein, doch könn’ am Ende nur verlieren“, singt sie. „Denn Gewinner stehen am Ende ganz allein da.“ Das klingt ein bisschen nach Plattitüde – ist tatsächlich aber nicht weit entfernt von den Lebensrealitäten einer 21-Jährigen, die gerade einen Vertrag bei einer großen Plattenfirma unterzeichnet hat, als Vorband vor Künstlern wie Andreas Bourani oder Max Giesinger auftritt und nebenbei bereits Mädchenschwarm Cro ohne Panda-Maske gesehen hat.

Um zu verstehen, wie die junge Frau, die nebenbei im Kino jobbt und für ein Amerikanistik-Studium vom Chiemsee nach München zog, in so kurzer Zeit den Sprung ins große Musikgeschäft geschafft hat, muss man den Film zurückspulen: Marie, geboren und aufgewachsen im Chiemgau, singt schon als Kind. Ihre Eltern schenken ihr eine Gitarre, fortan komponiert sie eigene Songs, die so gut sind, dass sie schon als Teenager ein gern gesehener Act auf Familienfeiern und Hochzeiten ist.
Menschen, die damals auf einer dieser Feierlichkeiten waren, erinnern sich noch heute daran, wie beeindruckend die selbstgeschriebenen Liebeslieder der jungen Sängerin waren. Marie singt immer auf Englisch, studiert nach dem Abitur kurzzeitig auch Amerikanistik in München, „obwohl ich eigentlich schon wusste, dass ich richtig Musik machen möchte“.

Sie nimmt einen Song auf, lädt das Ergebnis auf Soundcloud hoch und postet den Link in die Facebook-Gruppe „Musiker in München und Umgebung“. 58 Sekunden dauert der Ausschnitt, mit dem sie den Münchner Produzenten Hubertus Dahlem, der unter anderem mit Sänger Adel Tawil (Ich+Ich) arbeitet, für sich gewinnt. Der wiederum überzeugt dann Maries Eltern davon, dass er alles andere als ein zwielichtiger, sondern ein professioneller Musikproduzent ist. Marie lacht laut, als sie erzählt, dass „meine Mutter mich erst einmal gefragt hat, ob er nur nach meiner Stimme oder auch nach Bikini-Fotos gefragt hat“.

Auch bei Marie muss der Produzent Überzeugungsarbeit leisten – er rät ihr, fortan auf Deutsch zu singen. „Davon war ich am Anfang gar nicht so begeistert“, sagt die junge Münchnerin (übrigens ohne einen Anflug von Dialekt) und lacht. Mittlerweile sieht sie das anders und resümiert: „Die Leute, die mit mir gemeinsam Songs schreiben, kennen mein Inneres.“

Fast ein Jahr ist das her, ein Jahr, in dem Marie Bothmer weit gekommen ist. Jetzt, im September veröffentlicht sie ihren neuen Song „Fieber“, Anfang 2018 soll das Album folgen. Sie wird Pop-Sänger wie Max Giesinger und Johannes Oerding auf Tour begleiten und in München auf dem Festival „Sound of Munich Now“ spielen. Natürlich hat Marie mit Warner Music einen starken Partner im Rücken; einen, der für Videodrehs Stylisten und einen Booker für Konzerte organisiert. Vor allem aber hat Marie ausreichend Respekt vor dem Pop-Genre. Sie weiß, dass ein Major-Vertrag auch bedeutet, „dass man vorher prüft, ob ein Song Radio- oder Hit-Potenzial hat“ und dass man Social-Media-Kanäle wie Instagram oder Youtube pflegen muss, um auch eine jüngere Zielgruppe zu erreichen.

Mit ihren Produzenten Hubertus Dahlem, Frederic Todenhöfer und Ingo Politz verschanzt Marie sich jetzt schon einmal zum Songschreiben in den Bergen. Von Stunden wie diesen berichtet sie einnehmend und wortmächtig. Wenn sie erzählt, wirkt sie älter als 21, vielleicht auch, weil sie ihren Nebenjob im Kino ebenso ernst nimmt wie den Musikeralltag. Marie weiß ganz genau, wie lange man von einem Vorschuss bei ihrem Plattenvertrag mit Warner leben kann und wie wenig ein Spotify-Klick finanziell bedeutet. Und schaut dann schnell auf die Uhr, „weil ich heute noch im Kino arbeite. Ich mache Popcorn.“ Leben kann Marie Bothmer von der Musik nicht. Noch nicht.


Text: Valerie Präkelt

Foto: Ben Wolf / Warner