Paragrafen statt Monologe: Weil sie in den vergangenen Monaten nur selten gemeinsam proben konnten, haben Schauspielschüler die Otto-Falckenberg-Schule besetzt
Aus den Fenstern ragen Rettungsdecken von den Wänden herunter. „Wir wollten keine Banner anbringen. Die Bewegung ,Die Vielen‘ zitierend, haben wir uns für die Rettungsdecken entschieden“, sagt Lennart Boyd Schürmann, 27, Regiestudent und Schülersprecher an der Otto-Falckenberg-Schule. Ruhig ist es im Innenhof der Stollbergstraße. Hier befindet sich das Studio 2 der Schule. Hier werden junge Schauspieltalente ausgebildet. Normalerweise. Zurzeit findet der Unterricht online statt. „Es ist uns aktuell verboten, die Räume zu betreten“, sagt Lennart. Eine kleine Gruppe tut es trotzdem – um zu protestieren. Die Schauspielschüler wollen ihren Präsenzunterricht zurück.
Im Erdgeschoss stehen Tische in großen Abständen voneinander entfernt. Drucker, Desinfektionsmittel, FFP-2-Masken und Schnelltests. Hier haben die Studierenden geplant, wie sie vorgehen wollen. Aus den anderen Räumen im Studio 2 nahmen sie am Online-Unterricht teil. Obwohl sie die Räumlichkeiten nicht betreten dürfen. Eine Protestaktion. Mit Hygienekonzept. „Niemand will sich mit dem Virus infizieren. Trotzdem fordern wir eine Ausnahmegenehmigung für den Präsenzunterricht an unserer Schule“, sagt Lennart.
In einem offenen Brief hat sich die Schülerschaft Ende April an Politiker gewandt. Die Schule ist als Fachakademie für Darstellende Kunst in die Münchner Kammerspiele eingebettet. Rechtlich gilt sie als städtische Fachakademie. Hier beginnt das juristische Problem. „Deshalb können wir uns nicht, wie andere Ausbildungsinstitutionen, auf Ausnahmeregelungen für Hochschulen berufen“, sagt Lennart. Als Fachakademie falle die Otto-Falckenberg-Schule bislang unter die Regelungen für Berufsschulen. Mit der Folge, dass die Schauspielschule bundesweit die einzige ist, an der kein Präsenzunterricht stattfinden kann.
„In den letzten vier Monaten konnten wir insgesamt drei Wochen lang in Präsenz arbeiten“, heißt es im Brief. Das will man nicht länger hinnehmen. „Man fühlt sich ungerecht behandelt, wenn man sieht, dass andere Schauspielschulen in Präsenz arbeiten dürfen, aber wir nicht“, sagt Lea Reihl, 23. Andere Ausbildungsstätten sind durch die Ausnahmeregelung nicht an Inzidenzwerte gebunden. Seit ein paar Tagen liegt der Inzidenzwert München unter 100, wodurch sich die Chancen auf Präsenzunterricht auch erhöhen. Eine dauerhafte Ausnahmeregelung würde ein wiederholtes Betretungsverbot der Schule zumindest verhindern und den Unterricht unabhängig der Werte ermöglichen.
„Jedes Studium profitiert von Präsenz. Beim Schauspiel ist sie unentbehrlich.“
Viele Schüler und Studenten leiden unter dem Distanzunterricht. Warum eine Ausnahme für Schauspielstudierende? „Jedes Studium profitiert von Präsenz. Beim Schauspiel ist sie unentbehrlich. Ich habe vorher Theaterwissenschaft studiert. Beim Lesen theoretischer Texte ist es etwas anderes, wenn man allein im Zimmer lernt. Es ist auch nicht ideal, aber beim Schauspiel braucht es das Gegenüber im Raum“, sagt Isabell Höckel, 25. In den Phasen, in denen mit Hygienekonzept geprobt werden konnte, hat sie mit ihrer Spielpartnerin Szenen abstrahiert: „Wir durften uns nicht berühren. Ich sollte meinen Kopf in ihren Schoß legen. Wir haben versucht, diese Bewegungsabläufe ohne Körperkontakt auszuführen. Auch sonst suchten wir nach abstrakten, spielerischen Übersetzungen körperlicher Nähe.“
Als Ersatz für das gemeinsame Spielen auf der Bühne versuchten sie sich im Online-Unterricht an Videoprojekten. „Nach der dritten Videoarbeit ist man erschöpft. Aber ich habe auch etwas dabei gelernt,“ sagt sie.
Schauspielunterricht im WG-Zimmer? Für Marie Dziomber, 24, ist das eine Herausforderung: „Man wird zu Hause so klein in seiner Sprache und seinen Körperbewegungen. Wir haben bei uns im Flur kleine Zettelchen verteilt, um die Nachbarn zu informieren. Trotzdem macht man nur die halbe Lautstärke“, sagt sie. Das Gefühl für den eigenen Körper im Raum gehe verloren. Als es möglich gewesen ist, habe sich einer der Sprechdozenten mit einer kleinen Gruppe draußen getroffen, um Stimmübungen zu machen. „Die Leute gucken schon komisch, wenn man sich gegen einen Baum lehnt und man bei den Stimmlockerungsübungen laut „Mooo“ macht. Es ist lustig, aber auch befremdlich“, sagt sie.
Um vor Menschen spielen zu können, haben einige der Studenten im Sommer auf eigene Initiative das Amphitheater im Englischen Garten genutzt. Man muss auch gesehen werden, um zu lernen. „Schauspiel ist eine Kunst, die sich verlautbar macht. Gesang, Sprecherziehung, Tanz und Schauspiel brauchen Spielräume, die man im eigenen Zimmer nicht finden kann“, sagt Rasmus Friedrich, 24.
„Bisher ist es innerhalb der Schule zu keiner Ansteckung gekommen.“
Insgesamt 37 aktive Studierende im Bereich Schauspiel und Regie werden an der Schule ausgebildet. Es gibt 16 Unterrichtsräume. Durch Wechsel- und Einzelunterrichte seien nie alle auf dem Gelände. Tests, das Tragen von Masken, Abstandsregelungen und Unterricht im Außenbereich werden seit Pandemiebeginn umgesetzt. „Bisher ist es innerhalb der Schule zu keiner Ansteckung gekommen“, sagt Lennart.
Anja Thiemann lehrt an der Otto Falckenberg Schule Schauspiel. Sie hatte sich ein experimentelles Format ausgedacht: „Wir haben Whatsapp-Gruppenanrufe gemacht. Jeder war alleine draußen unterwegs. Das war spannend als Spielerlebnis, als Improvisation im öffentlichen Raum.“ Die Schauspielkunst sei aber ein Handwerk, das etwas mit Übung und mit Präsenz im Raum zu tun hat und sich im Prinzip nur mit mindestens einer weiteren Person erfahren lässt. Noch besser: In einer Gruppe.
„Online haben wir Monologe geprobt und uns angesehen, welche spielerischen Mittel im Film besser oder schlechter als im Theater funktionieren. Kritisches Feedback konnte ich nur bis zu einem gewissen Punkt geben. Weil ich eine Krise und Selbstzweifel nicht auffangen kann, wenn ich nicht im selben Raum stehe“, sagt Anja Thiemann.
Nachdem die Studierenden den offenen Brief in den sozialen Medien geteilt hatten, bekamen sie eine Nachricht: „Ein Studierendenvertreter der Akademie für Darstellende Kunst Bayern in Regensburg hat mir geschrieben. Sie ist auch eine Fachakademie und konnte im Hinblick auf das Infektionsgeschehen von der dortigen Kreisverwaltungsbehörde einer Hochschule gleichgestellt werden. Dort kann Präsenzunterricht nach §21 BayIfMV stattfinden“, sagt Florian Voigt, 24. Die Studierenden riefen daraufhin bei verschiedenen Ämtern an und sprachen via Zoom mit Kulturreferent Anton Biebl. Auf Seiten der Behörden herrschte zunächst Unklarheit, wer eine Ausnahmegenehmigung für die Otto-Falckenberg-Schule erteilen kann. „Veranlasst durch unsere Telefonate, haben sich die Behörden untereinander abgestimmt und vereinbart, dass das Kulturreferat als verantwortliche Behörde gelten und eine Ausnahmegenehmigung erteilen kann“, informiert die Gruppe in einer E-Mail das Kollegium und die Studierenden.
Außerdem erhalten sie eine Nachricht vom Gesundheitsreferat: Dort könne ebenfalls ein Antrag durch die Schulleitung eingereicht werden. Dieser würde höchstwahrscheinlich positiv beschieden. Um die juristische Grauzone zu klären, war die Aktion der Studierenden notwendig.
Druck machen. Laut werden. „Für den Fall eines negativen Bescheids werden wir gerichtliche Verfahrensmöglichkeiten prüfen“, sagt Lennart. Wenn alles gut geht, werden die Gold und Silber schimmernden Rettungsdecken bald von den Fenstern des Studio 2 verschwinden. Gerettet aber haben sich die Schauspielstudenten selbst.
Von Ornella Cosenza